Außenaufnahme des Landtagsgebäudes Baden-Württemberg mit den Fahnen von Baden-Württemberg, Deutschland und Europa im Vordergrund.

Anhörung im Landtag BW

Anhörung zu ME/CFS im Landtag von Baden-Württemberg

Update vom 29. Dezember 2022:

Aufbauend auf die Anhörung wurde am 21. Dezember ein fraktionsübergreifender Antrag von den Grünen, der CDU, SPD und FDP/DVP eingereicht: „Hilfen für Betroffene von Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom sowie Post- und Long-COVID“.

In einem ersten Schritt erhält zudem das Forschungszentrum Villingen Institute of Public Health 30.000 Euro Förderung vom Land Baden-Württemberg für eine Studie zu ME/CFS. Projektleiterin Lotte Habermann-Horstmeier wird mit der Berliner Charité kooperieren. Ziel ist es, einen interdisziplinären Praxisleitfaden und Handlungsempfehlungen für Ärzt*innen im Umgang mit ME/CFS-Erkrankten zu entwickeln. Dazu Petra Krebs MdL, Vorsitzende des Arbeitskreises Soziales, Gesundheit und Integration: „Fehldiagnosen und Unwissenheit verschlimmern die Situation von Erkrankten. Wir wollen insgesamt eine Sensibilisierung im Umgang mit dieser Erkrankung und eine breite Aufmerksamkeit fördern. Klar ist, dass dies erst der Anfang sein kann.“

Im Landtag von Baden-Württemberg fand am 20. Juni 2022 eine Anhörung im Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Integration zum „Krankheitsbild ME/CFS“ statt.

Vortragende

Neben den Ausschussmitgliedern nahmen folgende Vortragende an der Anhörung teil:

  • Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin
  • Prof. Dr. med. Uta Behrends, TU München
  • Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jürgen Michael Steinacker, Uniklinik Ulm
  • Susanne Ritter, ME/CFS-Selbsthilfegruppe Alb-DonauKreis/Schwäbische Alb
  • Gerhard Heiner, Initiative ME/CFS Freiburg
  • Birgit Gustke, Fatigatio e. V. – Bundesverband ME/CFS
  • Torben Elbers, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V.

Zudem beteiligte sich Bettina Grande, Psychologische Psychotherapeutin und engagiert in der Aufklärung über ME/CFS als organische Erkrankung, an der anschließenden Diskussion.

Ablauf der Anhörung

Der Ausschussvorsitzende Florian Wahl begrüßte die Anwesenden und stellte in einem kurzen Überblick das Krankheitsbild ME/CFS vor.

Die Vortragenden erhielten je 15 Minuten Zeit für ihre Ausführungen.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin

Den ersten Vortrag hielt Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen von der Charité Berlin. Sie gab eine Einführung zur Erkrankung ME/CFS, der Diagnostik, ärztlichen Betreuung und schwierigen Versorgungssituation. Sie berichtete, vor 15 Jahren mit der Leitung der Immundefekt-Ambulanz der Charité auch die ME/CFS-Sprechstunde übernommen zu haben. Sie sei überrascht gewesen, dass es ein Krankheitsbild geben kann, das so schwer ist, so viele junge Menschen betrifft und über das der Wissensstand noch so gering ist. Seitdem habe sich kaum etwas daran geändert. Zum Abschluss betonte Prof. Dr. Scheibenbogen die dringenden Notwendigkeit Medikamente zu entwickeln und bereits zugelassene Medikamente zu testen.
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Prof. Dr. Uta Behrends, TU München

Es folgte der Vortrag von Prof. Dr. Uta Behrends von der TU München über ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen. Sie berichtete, über die Forschung am Epstein-Barr-Virus zum Thema ME/CFS gekommen zu sein. Prof. Dr. Behrends formulierte drei Handlungsbedarfe. Erstens ein effizientes Screening von Erkrankten auf ME/CFS inklusive einer flächendeckenden Aufklärung der Bevölkerung sowie Fortbildung aller betroffenen medizinischen und nicht-medizinischen Berufsgruppen. Zweitens ein krankheitsspezifisches, interdisziplinäres, multiprofessionelles, intersektorales und altersübergreifendes Versorgungskonzept mit Betonung darauf, dass insbesondere auch die Schwerstbetroffenen versorgt sein müssen. Drittens ein flächendeckendes Versorgungskonzept in allen Bundesländern, das in Baden-Württemberg durch eine Anschubfinanzierung aufgebaut werden soll.
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Prof. Dr. Jürgen Michael Steinacker, Uniklinik Ulm

Prof. Dr. Jürgen Michael Steinacker von der Uniklinik Ulm sprach über die Forschungs- und Versorgungslandschaft in Baden-Württemberg. Er berichtete von der EPILOC-Studie – ein gemeinsames Projekt mehrerer baden-württembergischer Universitätskliniken zu Long COVID – sowie die Arbeit seiner Long-COVID-Ambulanz. Er wünschte sich eine Fortsetzung der Förderungen der EPILOC-Studie, die Förderung eines Ärztenetzwerkes Post-COVID und ein neues Zentrum für post-COVID und ME/CFS mit Forschung für die nächsten fünf Jahre.
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In der anschließenden Diskussion wurde kritisch angemerkt, dass die EPILOC-Studie das Symptom Post-Exertional Malaise nicht abfragt und somit die Subgruppe mit ME/CFS nicht definiert. Generell lag während der gesamten Anhörung ein Fokus auf dem Leitsymptom Post-Exertional Malaise, das ME/CFS deutlich von anderen Erkrankungen mit dem Symptom Fatigue abgrenzt. Es wurde wiederholt die Notwendigkeit von Pacing statt Aktivierung betont, um Zustandsverschlechterungen zu vermeiden.

Susanne Ritter, ME-CFS Selbsthilfegruppe Alb-Donau-Kreis/Schwäbisch Alb

Anschließend sprach Susanne Ritter von der ME-CFS Selbsthilfegruppe Alb-Donau-Kreis/Schwäbisch Alb. Sie berichtete von ihrer sehr schwer an ME/CFS erkrankten Tochter. Ritter schilderte eindrücklich die dramatische Lage erkrankter Kinder und Jugendlicher. Sie ging auch auf  die Situationen ein, denen die Eltern ausgesetzt sind, wenn die Kinder zu krank sind die Schule zu besuchen, wie u. a. die Androhung des Sorgerechtsentzugs und Prozesse am Sozialgericht. Als Forderungen ergaben sich daraus eine Aufklärung der Schulämter über die Erkrankung, eine bessere Versorgung, mehr Forschung, Ambulanzen an Unikliniken, Weiterbildung von Ärzt*innen, Aufnahme von ME/CFS in das Curriculum des Medizinstudiums, eine Versorgung der Schwerstkranken und der Ausbau der Telemedizin.
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Gerhard Heiner, Initiative ME/CFS Freiburg

Gerhard Heiner von der Initiative ME/CFS Freiburg schilderte die Auswirkung der ME/CFS-Erkrankung auf die eigene Familie, die dem eigenen Sohn „vielleicht nicht das Leben, aber die Zukunft genommen hat“. Er sprach die desaströse Versorgungslage an und ging auf die häufigen psychosomatischen Fehldiagnosen ein, die dazu führen würden, dass ME/CFS-Betroffenen statt dem eigentlich angebrachten Energiemanagement (Pacing) schädliche Aktivierungstherapien empfohlen werden, die zu iatrogenen Zustandsverschlechterungen bis hin zu Schwersterkrankungen führen. So folge der Psychiatrisierung die Invalidisierung der Erkrankten und habe neben dem seelischen Leid enorme gesellschaftliche Kosten zur Folge. Angesichts der dramatischen Lage fordert Heiner eine sofortige Aufklärungskampagne für die Öffentlichkeit, sofortige Fortbildung der Ärzt*innen und der betreffenden Sozialbehörden, Gerichte und Gutachter*innen. Es müsse endlich eine Kehrtwende um 180° erfolgen. Um wirksame Veränderungen zu erreichen, sei eine dauerhafte Zusammenarbeit der Engagierten auf höchster Ebene erforderlich. Er sehe dies angesichts der großen Aufgabe in Gestalt einer interfraktionellen Arbeitsgruppe in Verbindung mit der Benennung eines parlamentarischen Beauftragten und einer landesweiten Koordinationsstelle am ehesten verwirklicht.
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Birgit Gustke, Fatigatio e. V.

Für den Fatigatio e. V. sprach Birgit Gustke, die ehemalige Vorsitzende, über die Hürden, die ME/CFS-Erkrankte im Gesundheits- und Sozialsystem überwinden müssen. Sie forderte eine flächendeckende wohnortnahe Versorgung, Beratungs- und Schulungszentren, Fortbildungen, eine Koordinationsstelle für den Aufbau von Kompetenzzentren, Berücksichtigung von ME/CFS und Post-COVID-ME/CFS in der Bestandsversorgung, Pflege und Rehabilitation sowie die gezielte Förderung von Forschungsvorhaben.
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Torben Elbers, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Der letzte Vortragende war Torben Elbers, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, der anhand von Multiple Sklerose aufzeigte, wie eine bedarfsgerechte Versorgung und Erforschung aussehen sollte. Er unterstrich die Hürden, die von den Vorredner*innen aufgeführt worden waren, und gab einen Überblick zu  dringend benötigen konkreten Maßnahmen.

Elbers startete seinen Vortrag mit zwei Zitaten, zwischen denen 30 Jahre liegen. Sie illustrieren, dass trotz Kenntnis der Missstände keine weiteren Maßnahmen von Politik und Gesundheitswesen zu ME/CFS ergriffen wurden – mit den dramatischen Folgen für die Erkrankten und die ganze Gesellschaft, die in der Anhörung geschildert wurden.

Leider hat die diagnostische und therapeutische Unsicherheit dazu geführt, daß größere Teile der Schulmedizin die Existenz des CFS an sich ablehnten, oder es ohne weitere laborklinische Untersuchungen als psychosomatisch-psychiatrische Störung klassifizieren. (…) Um diesem Missstand abzuhelfen, berief das Bundesministerium für Gesundheit Ende letzten Jahres eine Expertengruppe zur Aufarbeitung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstandes, der Darstellung des Wissensdefizites und des sich hieraus ergebenden Forschungsbedarfs ein.
Arbeitsgruppe des Bundesministeriums für Gesundheit im Ärzteblatt1994
Derzeit ist die Erkrankung in Deutschland auch in der Ärzteschaft noch nicht ausreichend bekannt. Viele Betroffene warten deshalb lange auf ihre Diagnose. Zudem sind sie einem hohen Stigma ausgesetzt.
Wissenschaftlichen Dienst der Bundesregierung2022

Im Folgenden gibt es einige kurze Video-Clips mit Ausschnitten aus dem Vortrag:

Zum Vortrag

 

Im Anschluss an die Vorträge gab es eine 75-minütige Diskussionsrunde mit Fragen und Statements der Fraktionen.

Die Anhörung endete mit Schlussstatements von Sabine Schindel für das Sozialministerium Baden-Württemberg und vom Ausschussvorsitzenden Florian Wahl. Wahl betonte, dass die Anhörung zu ME/CFS im Vorfeld einstimmig beschlossen worden sei, was zeige wie ernst das Thema und die problematische Lage genommen werden. Nun sei der Ausschuss auch in der Pflicht weitere Schritte einzuleiten.

Schriftliche Stellungnahmen

Im Vorfeld der Anhörung hatten die Vortragenden zudem die Möglichkeit, schriftliche Stellungnahmen einzureichen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat eine 18-seitige Stellungnahme verfasst, die die dringenden Handlungsbedarfe erläutert: den Aufbau eines Versorgungsnetzwerks, eine breit angelegte Aufklärungs- bzw. Fortbildungskampagne und gezielte Forschungsförderung. Die Stellungnahme kann hier heruntergeladen werden.

Dies ist ein gekürzter Ausschnitt aus dem von uns geforderten Versorgungskonzept für Baden-Württemberg:

Aufbau von Versorgungsstrukturen

  • Einrichten von Kompetenzzentren, Ambulanzen und Schwerpunktpraxen
  • Task Force, Beratungs- und Koordinationsstellen, telefonische Beratungsstelle für medizinische sowie soziale und arbeitsrechtliche Fragestellungen
  • Telemedizinische und aufsuchende Behandlung haus- und bettgebundener Betroffener mit ME/CFS und Post-COVID-Syndrom
  • Etablierung spezieller ambulanter und stationärer Pflegeangebote
  • Konzept für die individuelle Beschulung betroffener Kinder und Jugendlicher
  • Unterstützung der bundespolitischen Ebene zur Schaffung weiterer Möglichkeiten der Leistungserbringung: Chronikerpauschale, Disease-Management-Programm, spezielle Fallpauschalen, Programm der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV, § 116b SGB V)

Gezielte Förderung von Forschungsvorhaben

  • Schaffung von Anreizen, beispielsweise durch auf postinfektiöse Krankheitsbilder zugeschnittene Ausschreibungen zur Forschungsförderung durch Landesmittel für Grundlagen-, Diagnostik- und Therapieforschung mit Blick auf Entwicklung von medikamentösen und kurativen Therapieverfahren zur Verbesserung der Lebensqualität
  • Gut definierte Kriterien zur Mittelvergabe, z. B. klinische Phänotypisierung anhand internationaler Diagnosestandards, Transparenz durch Vorveröffentlichung der Forschungsprotokolle, primäre Erfolgskontrollen durch objektive/quantitative Erfolgsmessung, relevante Endpunkte, Fokus auf Effektgröße und einhergehende Unsicherheit, neben statistischer Signifikanz, rasche Veröffentlichung der Forschungsdaten als Preprint, Einbringen von Patient*innenexpertise

Aufklärungs-/Fortbildungskampagne

  • Aufklärungs-/Fortbildungskampagne für Mediziner*innen sowie soziale Träger, Sozialversicherungen und Bildungseinrichtungen, inklusive ihrer angestellten und freien Gutachter*innen nach dem aktuellen Stand der Forschung mit Schwerpunkt auf dem Leitsymptom Post-Exertional Malaise (PEM)
  • Digitales umfassendes Informationsangebot durch das Gesundheitsministerium Baden-Württemberg
  • Aufnahme in die Curricula

Wie unser Sprecher Torben Elbers in der Anhörung betonte, handelt es sich um Maßnahmen, die für vergleichbare Erkrankungen längst Realität sind.

Wie es weitergeht

Der Ausschussvorsitzende Florian Wahl erklärte, er werde im nächsten Schritt mit den Obleuten der Fraktionen und unter Einbeziehung der schriftlichen Stellungnahmen darüber beraten, wie auf Landesebene weiter vorzugehen sei, um die Versorgungslage zu verbessern. In diesem Zusammenhang würden auch konkrete Vorgaben für das von Krankenkassen und Kassenärzt*innen selbst verwaltete Gesundheitswesen geprüft.

Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, wie es konkret weitergeht.

Entwicklungen zu ME/CFS in einzelnen Bundesländern (wie bisher u. a. in Thüringen und NRW) nutzen wir auch dafür, um uns darüber hinaus dringend benötigte Fortschritte in weiteren Bundesländern anstoßen.

Video der Anhörung

Die Anhörung war als Hybridveranstaltung organisiert und konnte per Livestream verfolgt werden. Die Aufnahme ist in der Mediathek verfügbar.

Links

  • Video der Anhörung (Link)
  • Ablaufplan der Anhörung (Link)
  • Schriftliche Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS (Link)
  • Pressemitteilung des Landtags von Baden-Württemberg (Link)
  • Gemeinsame Pressemitteilung der beteiligten Patientenorganisationen (Link)
  • Zusammenfassung der Anhörung von der ME/CFS-Selbsthilfe Ostwürttemberg (Link)

Bild: Pressebild Landtag Baden-Württemberg
Redaktion: jhe, tbe, mth