Grafik mit dem Text "Anhörung im Bundestag" und den Portraits von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen und Daniel Loy

Anhörung zu ME/CFS im Bundestag

Anhörung zu ME/CFS im Bundestag

Petition „Angemessene Versorgung von ME/CFS-Erkrankten“

Der Petitionsausschuss des Bundestags tagte am 14. Februar 2022 zum ersten Mal in diesem Jahr öffentlich. Auf der Tagesordnung stand die Petition „Angemessene Versorgung von ME/CFS-Erkrankten (Ergänzung von § 116b SGB V)“.

Die Petition wurde letztes Jahr von den vier ME/CFS-Betroffenen Sonja Kohl, Daniel Loy, Claudia Schreiner und Kevin Thonhofer eingereicht. Im Rahmen der von ihnen organisierten Kampagne #SIGNforMECFS unterstützen innerhalb von vier Wochen 97.210 Menschen die Petition mit ihrer Unterschrift. Mit diesem Ergebnis ist es die erfolgreichste Petition, die je zum Thema „Krankheitsbekämpfung“ über das Petitionsportal des Bundestages eingereicht wurde.

Forderungen: Versorgung, Forschung und politische Unterstützung

Die Forderungen der Petition lauten Versorgung, Forschung und politische Unterstützung für ME/CFS-Betroffene. Konkret werden insbesondere die Aufnahme von ME/CFS in den Katalog von § 116b Abs. 1 SGB V zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung, Investitionen in die biomedizinische Erforschung von ME/CFS und die Benennung eines parlamentarischen Beauftragten oder die Einrichtung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe gefordert.

Teilnehmende bei der Anhörung

Die Anhörung im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestags fand aufgrund der aktuellen Pandemie-Situation als Hybdridveranstaltung statt und wurde live im Parlamentsfernsehen und Internet übertragen.

Die Ausschusssitzung leitete die Vorsitzende Martina Stamm Fibich (SPD). Ihr ist ME/CFS bereits gut bekannt: Vor zwei Jahren organisierte sie das erste Fachgespräch zu ME/CFS im Bundestag gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und #MillionsMissing Deutschland.

Hauptpetent Daniel Loy nahm per Videoübertragung an der Anhörung teil. Zudem war auf Einladung der Petent*innen Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen – Fachärztin für Hämatologie, Onkologie und Fachimmunologin, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz und kommissarische Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie der Charité Berlin – als ME/CFS-Expertin vor Ort dabei.

Sabine Dittmar, Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, war per Videoübertragung zugeschaltet.

Eingangsstatement von Petent Daniel Loy

Zunächst hielt Petent Daniel Loy ein fünfminütiges Eingangsstatement. Da es die Situation der Erkrankten treffend und komprimiert zusammenfasst, wird es an dieser Stelle vollständig schriftlich wiedergegeben. Es kann es auch als Video angesehen werden.

„Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Abgeordnete, Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrte Damen und Herren!

Zunächst gilt Ihnen mein herzlicher Dank für diese Möglichkeit, dass ich heute im Namen der Betroffenen mit Ihnen über ME/CFS sprechen kann und unterstützt durch Frau Prof. Scheibenbogen von der Charité als ausgewiesene Expertin.

Für uns ME/CFS-Betroffene ist diese Anhörung ein ganz besonderes Ereignis. In der Vergangenheit wurde in Medizin und Gesellschaft meist – wenn überhaupt – nur über die ME/CFS-Betroffenen gesprochen, nicht aber mit uns. Heute dagegen hört der Deutsche Bundestag uns unmittelbar zu.

Welche Bedeutung das für die vielen Erkrankten hat, die dieser Anhörung jetzt gerade, zum Teil aus ihren Betten heraus, folgen, das kann man von außen wohl kaum ermessen. Ich will aber versuchen, Ihnen einen Eindruck davon zu vermitteln:

Während der Mitzeichnungsfrist erreichte unser kleines Organisationsteam eine Flut von Nachrichten, aus allen Teilen des Landes: von den Halligen in der Nordsee über das Erzgebirge bis zum Schwarzwald an der Schweizer Grenze, aus München wie aus Frankfurt. Darin schilderten uns Betroffene, deren Eltern, Geschwister, Partnerinnen und Partner ihre Verzweiflung und Not. Aber auch, wie sie sich für unsere Petition einsetzen. Ganz oft unter gesundheitsbedingt schwierigsten Umständen. Vor allem aber erfuhren wir immer wieder, welche Hoffnung bei vielen Menschen aufkeimte wegen unserer Petition an den Deutschen Bundestag. Man kann wirklich ohne Übertreibung sagen: Diese Petition ist ein Hilferuf mit 97.210 Ausrufezeichen.

Meine persönliche ME/CFS-Geschichte begann dabei ausgerechnet mit meinem bislang letzten Aufenthalt in Berlin: Ich besuchte dort im Frühjahr 2006 eine Veranstaltung der Studienstiftung des deutschen Volkes und infizierte mich währenddessen mit dem Epstein-Barr-Virus. Seitdem leide ich an ME/CFS. Trotz zahlreicher Arztbesuche wurde mir die Diagnose aber erst 2018 nach einer drastischen Zustandsverschlechterung gestellt. Also ganze zwölf Jahre später. Seitdem habe ich fast alles verloren, was mein Leben zuvor ausgemacht hat.

Nach Stellung der Diagnose war ich aber eigentlich ganz optimistisch, denn ich sah es so:
Natürlich kann man das Pech haben, dass es mal bis zur richtigen Diagnose dauert, aber wenn man das Problem dann kennt, dann gibt es eine Lösung. In unserem Land wird doch ernsthaft versucht, allen schwerkranken Menschen zu helfen, so dachte ich. Was ich aber seitdem über ME/CFS und über den Umgang mit dieser Erkrankung gelernt habe, hat diesen Optimismus großem Entsetzten weichen lassen.

Ich bin Jurist, und als solcher bin ich ja gewohnt, Aussagen auf ihre Plausibilität zu prüfen. Und ich muss Ihnen auch sagen, hätte mir jemand diese tatsächlichen Zustände in Sachen ME/CFS vor meiner eigenen Erkrankung geschildert, ich hätte das nicht geglaubt. Ich hätte nicht geglaubt, dass es eine Krankheit gibt, die so gravierend ist, dass man am schweren Ende des Spektrums nicht nur dauerhaft bettlägerig, sondern auf künstliche Ernährung angewiesen, zu Kommunikation nicht mehr der Lage ist, selbst geringste Sinnesreize wie Licht oder Berührung nicht mehr ertragen werden können – und das Ganze ohne Ende, also gegebenenfalls jahrzehntelang. Dass aber zugleich für ME/CSF bis heute keine Behandlungsansätze zugänglich sind und darüber hinaus auch keine Versorgungsstrukturen vorhanden sind. Ja, dass viele nicht einmal die dringende Notwendigkeit sehen, dass sich das ändern muss, weil ME/CFS einfach nicht ernst genommen wird. Das bedeutet insbesondere: schwerkranke Menschen vegetieren zu Hause vor sich hin, bekommen keine Unterstützung und wissen sich zum Beispiel nicht anders zu helfen, als in ihrem eigenen Badezimmer zu leben, weil selbst die kürzesten Strecken die geringen Kraftreserven überfordern.

Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines durchschnittlichen ME/CFS-Betroffenen: Sie werden auf einmal schwer krank. Schwerer vielleicht, als Sie sich das vorher auch nur vorstellen konnten. Sie wenden sich hilfesuchend an Ärztinnen und Ärzte, berichten über Ihre vielen quälenden Symptome und darüber, wie diese jedes normale Leben unmöglich machen. Aber man sieht es einfach nicht als schwere Erkrankung an. Es wird irgendwie auf Ihre Psyche, auf Ihr Verhalten geschoben. Man erklärt Ihnen, Sie seien eben antriebslos, auch wenn Sie Motivation für zehn haben, auch wenn Sie bei Beginn der Symptome gerade die beste Zeit Ihres Lebens hatten. Man erklärt Ihnen, Sie seien eben nach mildem Infekt dekonditioniert, auch wenn Sie vielleicht ein Profisportler sind und Ihren Körper ganz genau einzuschätzen wissen, oder man sagt etwas Ähnliches, was jedenfalls mit Ihrem Krankheitserleben und vor allem auch mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über ME/CFS absolut unvereinbar ist. Und dann passiert, während Ihr Körper krankheitsbedingt verfällt, die Krankheit voranschreitet, Sie aus Ihrem eigenen Leben verschwinden und natürlich auch in existenzielle Not geraten und Ihre Angehörigen mehr und mehr verzweifeln, Monat für Monat, Jahr für Jahr, nichts. Es passiert einfach gar nichts. Es gibt keine Hilfe. Und keine Perspektive.

Es gäbe an der Stelle noch so viel mehr zu sagen, aber ich hoffe, dass klar geworden ist:
Wir brauchen eine Veränderung dieser Situation, und zwar wirklich dringend. Das gilt gerade jetzt mehr als je zuvor. Denn aufgrund der Corona-Pandemie kommen aktuell Neuerkrankungen in großer Anzahl hinzu. Bei einer Subgruppe von Long COVID handelt es sich um nichts anderes als um ME/CFS.

Abschließend noch ein ganz kurzer Punkt: Mir ist bewusst, dass Sie als Abgeordnete immer das große Ganze im Blick behalten müssen. Und deswegen will ich auch den finanziellen Aspekt gleich ansprechen. Jede denkbare Maßnahme kostet Geld, aber ich will betonen: Selbst rein wirtschaftlich ist das Vernünftigste, was Sie machen können, in Aufklärung und Forschung zu investieren. Denn die volkswirtschaftlichen Schäden aufgrund von ME/CFS sind ohnehin da und werden für Deutschland auf jährlich über sieben Milliarden Euro geschätzt. Die Krankheit trifft überwiegend junge Menschen, die häufig gerade erst ihre teure Ausbildung abgeschlossen haben, dann aber doch wegen ME/CFS oft für den Rest ihres Lebens berufsunfähig und pflegebedürftig werden. Könnte man alle diese motivierten Menschen – und in der Summe reden wir über eine ganze Großstadt – in unsere Gesellschaft zurückholen, es gäbe so viel zu gewinnen.

Die Forderungen unserer Petition weisen hierfür einen Weg, und ich hoffe sehr, dass diese bei Ihnen auf Zustimmung stoßen.

Vielen Dank.“

Beantwortung von Fragen

Nach dem Eingangsstatement hatten die Mitglieder des Petitionsausschusses Gelegenheit, Fragen an Petent Daniel Loy, Expertin Prof. Carmen Scheibenbogen und Staatssekretärin Sabine Dittmar stellen. Das Interesse war groß und die Fragen der Abgeordnete aller Parteien zeigten, dass sie sich im Vorfeld mit den Inhalten der Petition und dem Thema ME/CFS beschäftigt hatten.

In der begrenzten Zeit von einer Stunde wurden viele wichtigen Themen angesprochen und auch Lösungsansätze genannt. Es ging um die mangelnde medizinische und soziale Versorgung, die fehlende Forschungsförderung sowie das Unwissen über die Erkrankung und die daraus resultierende Bagatellisierung und Stigmatisierung.

Staatssekretärin Dittmar erkannte im Namen der Bundesregierung Handlungsbedarf an: „Die Bundesregierung weiß, und auch ich persönlich weiß sehr wohl, mit welchen Einschränkungen und Belastungen Sie sich tagtäglich auseinanderzusetzen haben. Und deswegen bin ich auch sehr dankbar, dass es gelungen ist, als Regierungsauftrag in den Koalitionsverhandlungen zu vereinbaren, dass hier entsprechend mehr für die Erforschung und auch Sicherstellung der bedarfsgerechten Versorgung, sowohl der Langzeitfolgen von COVID-19, wo wir wirklich einen Zusammenhang mit der Myalgischen Enzephalopathie [sic] und dem Chronischen Fatigue-Syndrom sehen, und hier deutschlandweit ein Netzwerk von Kompetenzzentren und auch interdisziplinären Ambulanzen zu schaffen.“

Prof. Dr. Scheibenbogen machte auf Nachfrage wiederholt den dringenden Forschungsbedarf deutlich. Sie betonte, dass der Wissensstand zu ME/CFS nicht annähernd mit ähnlich häufigen und schweren Erkrankungen zu vergleichen sei: „Wir verstehen von der Erkrankung wahrscheinlich so viel, wie wir von anderen vergleichbaren Erkrankungen vor dreißig oder vierzig Jahren verstanden haben.“ Sie zog den Vergleich zur Onkologie, dem Fachgebiet, aus dem sie komme und das im Jahr 2022 angekommen sei. Es brauche im Gegensatz dazu bei ME/CFS dringend Unterstützung von der pharmazeutischen Industrie, Drittmittelgebern und der Politik. Auch müssten Ärzt*innen überhaupt im Studium von der Existenz der Erkrankung erfahren, um diese erforschen zu wollen. Die zu diesem Zeitpunkt geplante erstmalige Forschungsförderung nannte sie einen „Tropfen auf den heißen Stein“: „Wenn wir das vergleichen mit anderen Erkrankungen, die ähnlich häufig sind, gibt es dazu an jeder Universität mindestens zehn Forschungsprojekte. Und hier haben wir eine Erkrankung, wo wir gerade mal an fünf Universitäten jeweils ein Projekt haben. Das heißt, das reicht bei weitem nicht aus, gerade auch weil wir diesen großen Nachholbedarf haben in der Erforschung der Erkrankung.“

Dennoch gäbe es ein Grundverständnis von ME/CFS, führte Prof. Dr. Scheibenbogen aus: „Die Erkrankung, ausgelöst durch eine Infektion, ist sehr wahrscheinlich eine immunologische Erkrankung. Eine Erkrankung, bei der wahrscheinlich auch die Reaktion des Körpers gestört ist gegen körpereigene Strukturen. Wir können uns auf dieser Grundlage Medikamentenstudien anschauen. (…) Es bedarf dringend Unterstützung, sodass klinische Studien auf diesem Weg fortgesetzt werden können, und ich plädiere dafür, dass wir Medikamente in klinischen Studien entwickeln, die schon zugelassen sind für die vielen anderen Autoimmunerkrankungen, die wir haben. Denn so hätten wir eine Chance, in kurzer Zeit vielleicht auch schon eine Zulassung zu bekommen.“

Daniel Loy betonte die starke Stigmatisierung der Erkrankung und begründete die Notwendigkeit einer breitenwirksamen Aufklärungskampagne: „Worunter wir Betroffenen alltäglich wirklich leiden, sind auch einfach so Punkte wie die starke Stigmatisierung der Erkrankung. Es ist nicht nur so, dass man keine Hilfe bekommt, sondern ... Also, mir ist das persönlich passiert. Ich bin zu einem deutschen Facharzt gegangen. Ich hatte die Diagnose schon, ich habe sie genannt. Und die Antwort war hysterisches Lachen, einfach nur Lachen. Meine Frau saß daneben. Das ist eine Krankheit, die uns beiden alles genommen hat. Also auch unsere Zukunftspläne. Und wir ernten Lachen. Das ist kein bizarrer Einzelfall. Das können Betroffene wirklich tausendfach schildern, solche Erlebnisse.“

Prof. Dr. Scheibenbogen unterstrich die Forderung nach einer Aufklärungskampagne und schlug als ersten Schritt vor: „Es muss mal von Herrn Lauterbach gesagt werden: ‚Das ist ein Riesenproblem und wir müssen das jetzt tun‘ und ich glaube, dann wäre auch die Bereitschaft da. Aber solange die Mehrheit der Ärzte denkt: ‚Das ist keine ernst zu nehmende Erkrankung‘ oder ‚Es ist eine psychosomatische Erkrankung‘, wird sich nichts ändern.“

Auf Nachfrage erläuterte Prof. Dr. Scheibenbogen, wie eine medizinische Betreuung aktuell aussehen sollte. Zunächst betonte sie die Wichtigkeit von einer frühzeitigen Diagnose und evidenzbasierten Empfehlungen zum Krankheitsmanagement (Pacing): „Nun, zunächst ist es wichtig, zu verhindern, dass die Erkrankung sich verschlechtert. Viele erleben in der Anfangsphase, dass ihnen falsche Empfehlungen körperlicher Aktivierung gegeben werden. Viele Patienten sagen, sie sind aus der Reha viel kränker wieder rausgekommen. Und es ist in der Tat so, dass manche Patienten in die Bettlägerigkeit getrieben werden durch falsche Therapien.“ Darüber hinaus sollte versucht werden, Symptome wie beispielsweise Schmerzen und Kreislaufprobleme bestmöglich abzumildern und den Patient*innen Anerkennung über ihre schwere Erkrankung, beispielsweise bei Behörden, zu verschaffen. Da es bislang eine rein symptomatische Behandlung sei, könne man aber „wenig am Gesamtzustand ändern, und es sei „bei vielen Menschen eine sehr schwere Erkrankung, die mit dem normalen Alltag nicht vereinbar ist.“

Auf den Hinweis der Staatssekretärin, „dass Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung natürlich Anspruch haben auf eine angemessene medizinische Versorgung entsprechend dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand“ verwies Prof. Dr. Scheibenbogen auf die Versorgungsrealität der Erkrankten, die diesem Anspruch in der Praxis nicht gerecht wird: „(…) das Problem ist die Umsetzung, und die Realität sieht so aus, dass die Patienten oft gar keine Pflege bekommen, weil sie dafür natürlich eine Anerkennung brauchen. Die fehlt ihnen, oder sie bekommen keine Rente, weil die Erwerbsunfähigkeit gar nicht erst anerkannt wird. Das Problem ist auch, dass sie von vielen Ärzten gar keine Behandlung bekommen, weil die Ärzte diese Erkrankung nicht kennen. Und natürlich gibt es, sagen wir mal, Grundprinzipien in der Versorgung, die allen Patienten angeboten werden könnten und die auch viel Not lindern könnten. Aber auch das funktioniert bislang nicht. Das ist eine Situation, die nicht vergleichbar ist mit irgendeiner anderen Erkrankung. Und da reicht es nicht aus, auf die Selbstverwaltung zu hoffen. Da muss es einfach Anreize geben. Da gibt es ja auch klare Konzepte, wie so etwas umsetzbar sein könnte. Ich beschäftige mich seit über zehn Jahren damit. Aufgrund dieser großen Not, die ich jeden Tag sehe und erlebe und höre, haben wir uns auch innerhalb dieser letzten zehn Jahre schon sehr viele Gedanken gemacht zu Versorgungskonzepten. Die sind da, aber uns fehlt die Unterstützung, diese umzusetzen. Aber die sind auf allen Ebenen da.“ Als ein Beispiel für ein Versorgungskonzept wurde der aktuelle Antrag im Thüringer Landtag genannt.

Zur Aussage der Staatssekretärin, das Erstellen von Leitlinien sei Aufgabe der Fachgesellschaften und nicht der Politik, erklärte Prof. Dr. Scheibenbogen, dass es in Deutschland keine Fachgesellschaft gäbe, die sich für diese Erkrankung verantwortlich fühlt: „Und insofern funktioniert das leider in Deutschland so nicht. Deswegen muss es auch da mal den Anstoß geben, dass Ärzte sich damit mehr beschäftigen müssen, und es ist leider eine Fehlentwicklung in den letzten 20 Jahren passiert, dass diese Erkrankung als eine psychosomatische Erkrankung von den meisten Ärzten angesehen und eingeordnet wurde. Und das gilt es jetzt dringend zu korrigieren. Wir versuchen, die Ärzte zu erreichen über Fortbildungen. Das wird inzwischen auch angenommen, und es ist so, dass sich mehr Ärzte inzwischen mit ME/CFS auskennen, aber das reicht bei weitem nicht. Und insbesondere: Wir brauchen, wie Herr Loy schon sagte, Strukturen an den Universitäten für diese schwerkranken komplexen Patienten.“

Prof. Dr. Scheibenbogen thematisierte auch das Leid der Kinder und Jugendlichen mit ME/CFS. Unter den Erkrankten seien zehn bis zwanzig Prozent Minderjährige. „Ich kenne sehr viele Schicksale von solchen Kindern, die keine Diagnose haben, die teilweise sogar ihren Familien weggenommen wurden, weil diese Kinder in der Regel nicht mehr beschulbar sind.“ Die Kinder seien teilweise noch schlechter versorgt als die Erwachsenen und „die Schicksale noch mal umso schlimmer“.

Zum Abschluss der Anhörung verlieh Daniel Loy seiner Hoffnung Ausdruck, „dass diese Anhörung heute ein Auftakt war. Nicht weniger darf sie sein, denn wir brauchen jetzt zeitnah ganz konkrete Schritte, die die Situation der Betroffenen spürbar verbessern.“ Zudem betonte er nochmals die Wichtigkeit, mit Betroffenen statt über Betroffene zu sprechen und sie bei der Ausgestaltung zukünftiger Maßnahmen mit einzubeziehen, nach der Maßgabe „Nicht ohne uns über uns“.

Für ME/CFS-Erkrankte, die aufgrund der Unverträglichkeit von Reizen kein Video- und Audioformat mehr nutzen können, haben wir ein Transkript der gesamten Anhörung angefertigt, das hier abgerufen werden kann:

Nach der Anhörung postete Petent Daniel Loy auf Twitter ein Bild im Liegen: „(…) Kurzfristiges Funktionieren hat mit #MECFS seinen Preis. Viel Gutes wurde heute im Bundestag besprochen, noch viel mehr muss ganz bald passieren.“

Ausblick

Der Petitionsausschuss wird Stellungnahmen einholen, in einer weiteren Sitzung abstimmen und eine Empfehlung an den Bundestag verabschieden. Über die Empfehlung wird der Bundestag einen Beschluss fassen.

Auf Social Media können Neuigkeiten rund um die Petition über das Hashtag #SIGNforMECFS verfolgt werden, zudem informiert das Petitionsteam auf der Webseite www.signformecfs.de unter „Aktuelles“. Wir listen am Seitenende neue Links nach ihrem Erscheinen auf und werden über unsere Kanäle informieren.

Botschaften von ME/CFS-Betroffenen

Vor Beginn der Anhörung wurden die Botschaften von über 230 ME/CFS-Erkrankten und Angehörigen an die Ausschussmitglieder überreicht. Die Übergabe und den Fototermin übernahm die 16-jährige Tochter einer Petentin, da die Petent*innen selbst zu schwer erkrankt sind.

Auf den Fotos abgebildet sind Martina Stamm-Fibich (SPD), Linda Heitmann (Bündnis 90/Die Grünen), Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen), Sebastian Brehm (CSU) und Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen (Charité – Universitätsmedizin Berlin). Martina Stamm-Fibich nahm anschließend als Vorsitzende des Petitionsausschusses die Botschaften stellvertretend entgegen.

Die Botschaften können online hier angesehen werden.

Video der Anhörung

Das ganze Video der einstündigen Anhörung kann hier abgerufen werden.

Links rund um die Petition

Bilder: Team SIGN for MECFS
Redaktion: jhe