Durch Wegschauen wurde noch keine Krankheit erforscht

Durch Wegschauen wurde noch keine Krankheit erforscht

Da ME/CFS in den letzten Jahrzehnten ignoriert wurde, steht die Medizin heute Long Covid weitestgehend ratlos gegenüber. Höchste Zeit, intensiv in biomedizinische Forschung zu investieren

„Immer mehr Evidenz deutet darauf hin, dass CFS eine Störung des Immunsystems ist. Die Mainstream-Medizin war zu langsam, das Problem ernst zu nehmen. (...) Der größte Teil der bisherigen Forschung wurde von Patientengruppen oder einzelnen Ärzten finanziert, die darum kämpfen, in einem der am wenigsten lukrativen Fachgebiete der Medizin über die Runden zu kommen. Mindestens ein führender Forscher hat seine Arbeit finanziert, indem er seine Büromöbel verkaufte und Nachtschichten in der Notaufnahme eines Krankenhauses übernahm.“1

„Nath vermutet, dass einige Symptome der Long Hauler durch eine Hypothese erklärt werden können, die er für die Ursache des Chronischen Fatigue-Syndroms favorisiert: Eine Infektion hat bei ihren Opfern eine anhaltende Aktivierung des Immunsystems ausgelöst, die den Körper im Zustand eines schwelenden Kampfs mit sich selbst zurücklässt.“2

Beide Zitate stammen aus dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Newsweek“ und beschreiben die Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) als mögliche Störung des Immunsystems. Zwischen dem ersten und zweiten Zitat liegen dreißig Jahre. Die Feststellung der Autoren aus dem Artikel von 1990, dass die „Mainstream“-Medizin zu langsam sei, das Problem der Erkrankung ernst zu nehmen, hat drei Jahrzehnte nach dem Artikel und fünfzig Jahre nach Einordnung als neurologische Erkrankung durch die WHO3, weiter ihre Gültigkeit. Überspitzt formuliert: Wenn Mediziner*innen zur Finanzierung ihrer Forschung nicht ihre Büromöbel hätten verkaufen müssen, stünde die Medizin den Covid-19 „Long Haulern“ heute nicht so ratlos gegenüber.

In Deutschland berief das Bundesministerium für Gesundheit Anfang der 90er Jahre eine Arbeitsgruppe zu ME/CFS ein. Diese Arbeitsgruppe kritisierte im Abschlussbericht, dass „größere Teile der Schulmedizin die Existenz des CFS an sich ablehnten, oder es ohne weitere laborklinische Untersuchungen als psychosomatisch-psychiatrische Störung klassifizieren“4. Dieses „Wissensdefizit“ sei ein „Missstand“, aus dem sich „Forschungsbedarf“ ergebe. Doch dann übernahmen internationale Psychiater*innen und Psycholog*innen das Steuer der ME/CFS-Forschung. Das Ergebnis: Jahrzehnte des Stillstands und für Erkrankte schädliche Therapien5, die – laut aktueller Analyse des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) – auf Forschung mit niedriger und überwiegend sehr niedriger Qualität basierten6. Trotzdem prägten diese Empfehlungen für kontraindizierte Behandlungen seit Jahrzehnten weltweit offizielle Leitlinien. Ein Schicksal, das auch den nach einer Covid-19-Infektion anhaltend erkrankten Long Haulern widerfahren könnte.

In Deutschland sind rund 250.000 Menschen an ME/CFS erkrankt.7 Experten schätzen, dass zusätzlich bis zu 100.000 Menschen mit Long Covid dauerhaft erkranken könnten.8 Es ist an der Zeit, die Fehler der Vergangenheit hinter sich zu lassen und intensiv in biomedizinische Forschung zu ME/CFS und Long Covid zu investieren.

Die Anfänge: zwei Namen, eine Krankheit

Der Name „Myalgische Enzephalomyelitis“ wurde 1956 eingeführt. Eine Arbeit untersuchte mehrere Ausbrüche bewiesenen und vermuteten viralen Ursprungs, von denen sich viele Menschen nicht erholten. Einer der Ausbrüche fand in der Region Nordlondon statt, insbesondere im Royal Free Hospital.9 Vor allem Krankenschwestern, aber auch einige Ärzte, erkrankten an einer akut infektiösen neuroimmunologischen Krankheit mit Symptomen wie massiven Kopfschmerzen, Halsschmerzen, subfebrilen Temperaturen, geschwollenen Lymphknoten, Muskelschwäche, -schmerzen und -krämpfen, Fatigue, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Nackenstarre, Halbseitenlähmung, Tinnitus und Lichtempfindlichkeit. Das zentrale und periphere Nervensystem war betroffen, die Inkubationszeit betrug sechs Tage. Bei jeglicher Anstrengung kam es zu Rückfällen, die hauptsächliche Therapie war eine strenge Bettruhe. Der Ausbruch der lokalen Epidemie dauerte mehrere Monate an und führte dazu, dass das Hauptkrankenhaus des Royal Free Hospital für drei Monate aufgrund von Personalmangel geschlossen werden musste. Bei einigen hielten die Beschwerden für Jahre an, sie wurden dauerhaft chronisch krank.10

Fünfzehn Jahre später erscheint ein Artikel von zwei Psychiatern, die nach Aktenlage zu dem Schluss kommen, dass kein Virus, sondern Hysterie die wahrscheinlichere Erklärung für das Geschehen im Royal Free Hospital gewesen sei. Die Begründung: „Die Daten, die diese Hypothese unterstützen, zeigen eine hohe Rate bei Frauen im Vergleich zu Männern (…).“11 Die Tatsache, dass die Erkrankten mehrheitlich weiblich waren, war für die Autoren Hinweis genug, dass es sich um Hysterie und nicht eine körperliche Erkrankung handeln musste. Die These wurde von den Medien aufgegriffen, kam auf Titelseiten und beeinflusste den Diskurs nachhaltig. Eine Neuauswertung aus dem Jahr 2020, mithilfe von 26 Zeitzeug*innen und Originaldokumenten, kommt jedoch – wie die Autoren aus dem Jahr 1956/57 – zu dem Ergebnis, dass es sich beim Ausbruch um eine virale Infektion mit körperlichen Langzeitfolgen gehandelt haben muss.12

Nach einem Cluster-Ausbruch eines bis heute unbekannten Pathogens im Jahr 1984/1985 in den USA am Lake Tahoe,13 wurde die Myalgische Enzephalomyelitis auch dort in der Öffentlichkeit bekannt. Doch die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gaben der Erkrankung eine neue Bezeichnung: „Chronic Fatigue Syndrome“. Der Name hat aus Sicht der Erkrankten und einem der damaligen Namensgeber, Prof. Dr. Komaroff, die Krankheit stark trivialisiert und zur Stigmatisierung beigetragen.14

Dr. Stephen Straus, der den Cluster-Ausbruch am Lake Tahoe für die National Institutes of Health (NIH) untersuchte, nannte die Erkrankten „depressive Frauen in den Wechseljahren“.15 In einem Paper über ME/CFS schreibt er 1988: „Die Demographie dieses Syndroms spiegelt ein übermäßiges Risiko für gebildete weiße Frauen wider.“16 Zudem will Straus bei den erkrankten Frauen zu „ehrgeizige Ambitionen“ und „schlechte Bewältigungsfähigkeiten“ erkannt haben. Für ME/CFS-Forschung werden in den Folgejahren wenige Mittel bereitgestellt. In den 90ern werden für die Erkrankung bereitgestellte Mittel von den CDC in Teilen anderweitig verwendet.17

Frauendominierte Erkrankungen bekommen weniger Geld

An ME/CFS sind mehrheitlich Frauen erkrankt.18 Eine Verteilung, die z. B. von Autoimmunerkrankungen bekannt ist.19 Eine aktuelle Studie zeigt, dass die National Institutes of Health in den USA Erkrankungen, an denen mehrheitlich Männer erkranken, stärker finanzieren. Umgekehrt werden Krankheiten, an denen vorwiegend Frauen erkranken, unterfinanziert. Die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der belastungsgerechten Finanzierung bei Krankheiten, die männerdominiert sind, ist fast doppelt so groß wie bei Krankheiten, an denen mehrheitlich Frauen erkranken.20 Bei ME/CFS ist dieses Missverhältnis besonders stark ausgeprägt: Studien zufolge erhält ME/CFS die wenigsten Forschungsgelder gemessen an der Krankheitslast.21 Ausgehend von der Krankheitslast müsste die Forschungsförderung in den USA 203 Millionen US-Dollar pro Jahr betragen – das 14-Fache der aktuellen Förderung. Das entspräche in Deutschland umgerechnet auf die Bevölkerung 43,3 Millionen Euro pro Jahr. Bis 2021 gab es in Deutschland jedoch keine offizielle Forschungsförderung. Zusammengenommen ist für die kommenden Jahre in Deutschland erstmals eine Förderung von 3,68 Millionen Euro geplant.

Nicht erklärbare Symptome werden als psychologisch eingestuft

Medizinhistorisch zeigt sich, dass Erkrankungen, die wissenschaftlich noch nicht erklärbar waren, häufig als psychosomatisch eingeordnet wurden. Der Grund für die unerklärlichen Symptome wird in der Persönlichkeit der Erkrankten gesucht, die „Krankheit als Metapher“22 angesehen. Es gab Theorien zur „Krebspersönlichkeit“ und „Infarktpersönlichkeit“,23 Autismus wurde als Folge emotional kalter „Kühlschrankmütter“ gesehen,24 das Keuchen asthmatischer Kinder als unterdrückter Schrei nach ihrer Mutter interpretiert und mit Gesprächstherapie behandelt,25 und Epileptiker als „emotional infantile Narzissten“ eingestuft26.

Mit einer Vielzahl von grippeartigen, orthostatischen (Kreislauf), schmerzhaften und belastungsinduzierten Symptomen, deren Ursprung noch nicht vollständig erklärt werden kann, fällt ME/CFS in ein historisches Schema der Psychologisierung. Ein aktueller wissenschaftlicher Review zeigt, dass bei frauendominierten Erkrankungen, die medizinisch bisher nicht erklärbar sind, die Erkrankten häufig als hysterisch oder Simulant*innen beschrieben wurden.27 Nicht erklärbare körperliche Symptome, in der Fachsprache „Medical Unexplained Symptoms“, „Funktionelle Syndrome“, „Somatoforme Störung“ oder „Neurasthenie“ (die moderne Bezeichnung für Hysterie) genannt, werden auch geschlechterübergreifend psychologisiert.

Brian Hughes, Professor für Psychologie an der National University of Ireland in Galway, hält eine solche Argumentation für einen „elementaren Fehler“ und vergleicht sie mit dem „‚Gott-der-Lücken‘-Trugschluss“. Hughes erklärt, dass in der Medizin bei einem ansonsten unlösbaren Rätsel oft angenommen wird, dass die Psychologie die Antwort sein muss. Die Psychologie sei der „Gott“, der die Lücken in einer unvollständigen Geschichte füllt. Hughes führt aus: „Die formale Bezeichnung für diese Art von logischem Fehlschluss heißt: ‚Argument, das an das Nichtwissen appelliert‘. Es ist ein potenter Trugschluss, gerade weil Menschen von Natur aus eine Abneigung gegen Unsicherheit haben. (…) Das Füllen von Leerstellen mit Psychologie – in Ermangelung robuster (oder jeglicher) Beweise – ist logisch fehlerhaft. Aber diese Praxis bietet das verführerische Gefühl einer abschließenden Antwort, das sehr überzeugend sein kann. Das ist genau der Grund, warum wir dies immer nur als letzten Ausweg tun sollten, und nur, wenn die höchsten Beweisstandards erfüllt sind. Psychogenese-Behauptungen [bei körperlichen Symptomen] (…) erfordern außergewöhnliche Evidenz.“28

Zwischen 2007 und 2016 wurden weltweit umgerechnet 56 Millionen Euro in ME/CFS Forschung investiert.29 Das sind 5,6 Millionen Euro pro Jahr für mindestens 17 Millionen Erkrankte. Multiple Sklerose, die von der Anzahl der Erkrankten und Schwere der Beeinträchtigungen vergleichbar ist, wurde im selben Zeitraum mit 1,2 Milliarden Euro gefördert. Die zwanzigfache Fördersumme von ME/CFS. Aufgrund der geringen Forschungsförderung von ME/CFS, wird der Krankheitsmechanismus bis heute nicht vollständig verstanden. Auch einen Biomarker, der bei der Diagnostik helfen könnte, gibt es noch nicht (in den letzten Jahren sind jedoch erste vielversprechende Studien erschienen)30,31. Daher wird die Erkrankung weiterhin von einigen Ärzten der Psychosomatik zugeordnet. Der Stanford Genetiker Ron Davis, der 2013 von „The Atlantic“ neben Jeff Bezos und Elon Musk als einer der neun größten Innovatoren unserer Zeit beschrieben wurde,32 erklärt, dass das Standardblutbild seines an ME/CFS erkrankten Sohnes normal ausfällt. Anhand dieser Werte würde man ihn als gesund einschätzen. Der Sohn ist jedoch bettlägerig, kann nicht mehr sprechen und muss künstlich ernährt werden.33 Erst mit modernen Untersuchungsmethoden, die bislang teils nur in der Forschung zur Verfügung stehen,34 würden sich schwere Anomalien zeigen.

Psychologische Forschung mit „sehr niedriger Qualität“ dominiert die letzten Jahrzehnte

Im Jahr 1989 wird ein Paper veröffentlicht, das den Diskurs der nächsten zwei Jahrzehnte bestimmen wird. Beschrieben werden die angeblich fehlenden Beweise für eine körperliche Erkrankung. Daher sollen Erkrankte nach einem Virusinfekt schlicht dekonditioniert sein und daraufhin den Glauben entwickeln, krank zu sein.35 Die Behandlung: Sport gegen die Dekonditionierung und Kognitive Verhaltenstherapie mit der Aufforderung aktiver zu werden gegen die irrige Krankheitsüberzeugung. Die im Jahr 2011 erschienene groß angelegte PACE-Studie gibt an, den Erfolg dieser umstrittenen Behandlungen endgültig belegt zu haben.36 Dem gegenüber stehen die mehrheitlichen Aussagen von Patient*innen aus der ganzen Welt, dass diese Behandlungen ihnen nicht helfen, sondern aufgrund des Leitsymptoms von ME/CFS – der Post-Exertional Malaise, eine belastungsinduzierte Symptomverschlechterung – sogar schaden. Wissenschaftliche Neuauswertungen der Daten der PACE-Studie geben schließlich den Patient*innen recht und zeigen die Wirkungslosigkeit der Behandlungen.37 Biostatistiker Dr. Bruce Levin von der Columbia University beschreibt die Studie als „Höhepunkt des Amateurismus bei klinischen Studien.“38 Sehens- und lesenswerte Analysen zur PACE-Studie gibt es hier, hier und hier. Trotz mangelhafter wissenschaftlicher Qualität prägt die PACE-Studie bis heute weltweit die offiziellen Leitlinien – auch in Deutschland. Obwohl es den ME/CFS-Kranken nach Aktivierung oft sehr viel schlechter geht,39 werden diese Therapien in Deutschland immer noch empfohlen.

Im Rahmen der Ausarbeitung neuer Leitlinien für ME/CFS, führte die britische Gesundheitsbehörde NICE eine dreijährige umfassende Bewertung der Studienlage durch, die 2020 als Entwurf veröffentlicht wurde: Von 236 Ergebnissen der Studien, die angaben, ansteigende Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy) und Kognitive Verhaltenstherapie seien effektive Behandlungen für ME/CFS, wurde die Qualität der Evidenz für 205 Ergebnisse (inklusive die Ergebnisse der PACE-Studie) mit „sehr niedrig“ und der restlichen 31 mit „niedrig“ bewertet. Keine einzige Studie, schaffte es auch nur als „mittelmäßig“ eingeordnet zu werden.40 Ferner veröffentlichte NICE einen Warnhinweis, dass Aktivierungstherapien nicht mehr verschrieben werden sollten, und unterstreicht, dass Verhaltenstherapie keine heilende Therapie für ME/CFS ist.41

ME/CFS ist eine organische Multisystemerkrankung, zeigt die Auswertung von 9.000 Studien

Dem Richtungswechsel der NICE war 2015 ein Bericht vom renommierten amerikanischen Institute of Medicine (heute National Academy of Medicine) vorausgegangen. Der mit über 9.000 untersuchten Studien bisher größte Review über ME/CFS kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „ME/CFS ist eine ernste, chronische, komplexe, systemische Erkrankung, die das Leben der Patienten tiefgreifend beeinflussen kann.“ Und weiter: „ME/CFS kann zu erheblichen Beeinträchtigungen und Behinderungen führen (…).”42 Das Leitsymptom sei die Post-Exertional Malaise. Dieser Bewertung schloss sich im Jahr 2020 auch das Europäische Parlament an, beschrieb ME/CFS als „verborgenes Problem im Gesundheitswesen“ und forderte die Mitgliedsstaaten auf, aktiv zu werden.

Déjà-vu: Long Covid wird psychologisiert

Während internationale Expert*innen keinen Zweifel über die körperlichen Ursachen von ME/CFS haben, lässt sich der oben beschriebene Reflex der Psychologisierung auch bei Long Covid beobachten. Es wird beschrieben, dass es keine Auffälligkeiten in den gemachten Tests gibt, mehrheitlich Frauen betroffen sind und die Erkrankten Schmerzen und viele weitere Symptome haben, die derzeit nicht erklärt werden können. Die Schlussfolgerung einiger Veröffentlichungen: Die Symptome müssen psychisch sein.43, 44 Sogar das Konzept der Massenhysterie taucht direkt und indirekt wieder auf.45,46

In einer qualitativen Studie beschreiben Ärzt*innen, die selbst an Long Covid erkrankt sind, ihre Erfahrungen als Patient*innen im medizinischen System: „Außerdem wurde ich bei jeder Anstrengung tachykardisch. Und ich wollte es nicht zugeben, weil ich die Sorge hatte, dass es als Angst abgetan wird.“

„Es war kein aktives Vorurteil, aber ich habe nicht genügend darüber nachgedacht ... Einige von uns in der Gruppe haben gesagt, wie sehr wir uns für einige unserer Haltungen gegenüber Patienten schämen, und für den Mangel an Empathie ... Dieses Konzept, von Patienten irritiert zu sein, wenn sie sich nicht wirklich freuen, wenn ein Test ohne Befund zurückkommt ... Hoffentlich macht es mich am Ende zu einem besseren und empathischeren Arzt.“47

Durchzusetzen scheint sich die Sicht, dass es sich in den meisten Long Covid-Fällen um eine körperliche Erkrankung handelt. Gegenüber der Los Angeles Times sagt der führende amerikanische Infektiologe Dr. Anthony Fauci: „Oft denken Leute, es sei eine psychische Störung, das ist nicht so. (...) Wir werden auf keinen Fall annehmen, dass das hysterisch ist, es ist eine reale Situation.” Bei einer Gruppe der Long Covid-Erkrankten überschneiden sich die Symptome mit denen von ME/CFS so deutlich, dass sie die Diagnosekriterien erfüllen (mehr dazu hier). Dr. Fauci hierzu in einem Medscape-Interview: „Und es ist erstaunlich, wie viele Menschen (mit Covid-19) ein postvirales Syndrom haben, das der Myalgischen Enzephalomyelitis/dem Chronischen Fatigue-Syndrom auffallend ähnlich ist.“48 Auch in der deutschen Medizin dringt immer mehr durch, dass ME/CFS und Long Covid keine psychiatrischen Erkrankungen sind, wie der Charité-Infektiologe Prof. Dr. Leif Erik Sander in einem Interview mit der ZEIT berichtet.49

Zeit, die prekäre Lage der Erkrankten anzuerkennen und in Forschung zu investieren

In den USA wird der Ernst der Lage nun erkannt. Der Kongress bewilligt 1,15 Milliarden US-Dollar zur Erforschung von Long Covid.50 Nach zehnjährigem intensivem Einsatz der ME/CFS-Erkrankten in den Niederlanden, verabschiedet auch das dortige Parlament Anfang 2021 eine Förderung von 28,5 Millionen Euro für biomedizinische Forschung zu ME/CFS über die nächsten zehn Jahre.51

In Deutschland sind politisch erste kleine Schritte zu beobachten.52,53 Auch das Interesse auf Seiten der Medizin wächst. Anfang des Jahres nahmen fast vierhundert Ärzte an einer Online-Weiterbildung zu ME/CFS und dem Post-COVID-19-Fatigue-Syndrom teil.54 Aber die Lage der ME/CFS-Erkrankten und auch die der Long Covid-Erkrankten bleibt prekär. Hier sind rund 250.000 Menschen an ME/CFS erkrankt, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche.55 Es gibt keine Therapie und keine Anlaufstellen. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen.56 Über sechzig Prozent werden arbeitsunfähig.57 Studien zufolge ist die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten oft niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten.58 Die Betroffenen erkranken meist jung, zwischen der Jugend und den Dreißigern.59

ME/CFS-Kranke verlieren in der Regel ihr gesamtes bisheriges Leben. Viele sind bettlägerig, zu eingeschränkt ihr Haus zu verlassen oder zu arbeiten. Daher müssen wir heute in Forschung und Therapien investieren. Nicht erst in dreißig Jahren. Oder den dreißig Jahren danach.
Daniel HattesohlVorsitzender, Dt. Ges. für ME/CFS

Der volkswirtschaftliche Schaden durch ME/CFS könnte jährlich 7,4 Milliarden Euro in Deutschland betragen, wenn man die Schätzungen des European Network on ME/CFS (EUROMENE) von 40 Milliarden Euro Schaden für Europa auf die deutsche Bevölkerung überträgt (mehr dazu hier).60 Durch Covid-19 könnten zusätzliche bis zu 100.000 Menschen dauerhaft erkranken, wie Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen gegenüber dem Politmagazin Frontal 21 sagt. Dies würde den jährlichen Schaden weiter in die Höhe treiben.61 Volkswirtschaftlich gesehen ist es also teurer, nicht in die Erforschung einer Therapie zu investieren. Aus menschlicher Sicht sowieso. Deshalb muss in dieser Situation in großem Umfang in biomedizinische Forschung für ME/CFS und Long Covid investiert werden.

Am 12. Mai ist weltweiter ME/CFS Tag. Die Initiative #MillionsMissing Deutschland hat zu einer Postkartenaktion aufgerufen, damit die Landesparlamente aktiv werden. Die Aktion wird von allen ME/CFS-Patientenorganisationen – der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, dem Fatigatio, der Lost Voices Stiftung und der Elterninitiative ME/CFS-kranke Kinder und Jugendliche München e.V. – unterstützt.

Die Forderungen:

„Wir bitten die 16 Landesparlamente, ihre jeweiligen Landesregierungen zu folgenden Maßnahmen aufzufordern:

  1. Förderung und Intensivierung der Forschung zu den Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von ME/CFS sowie ME/CFS als Spätfolge einer Covid-19-Erkrankung durch Bundes- und Landesmittel mit dem Ziel, universitäre Forschungsteams an deutschlandweiten Standorten zu diesem Thema zu etablieren.
  2. Erstellung eines Konzepts für die individuelle Beschulung betroffener Kinder mit unterschiedlichen Schweregraden. Dies könnten speziell auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Koordinationsstellen auf Länderebene sein, die Eltern beratend zur Seite stehen.
  3. Einrichtung von Beratungs-/Koordinationsstellen für Betroffene und deren Angehörige zur gezielten Information über die Erkrankung, Empfehlungen von Ärzten und bestehende Unterstützungsangebote.
  4. Schaffung eines deutschlandweiten Netzwerks: Plattform für den Austausch der Wissenschaftler*innen, um Synergien nutzen zu können. (Auf Europaebene erfolgt dies derzeit zwischen einigen wenigen deutschen und europäischen Wissenschaftler*innen durch das europaweite ME/CFS-Forschungsnetzwerk EUROMENE. Die Forschung wird lediglich durch Stiftungen gefördert.)

Wir bitten die 16 Landesparlamente außerdem, ihre jeweiligen Landesregierungen zur Befürwortung folgender Maßnahmen auf Bundesebene aufzufordern:

  1. Anerkennung der Schwere und Komplexität von ME/CFS durch Aufnahme in den Katalog des Paragraphen 116b SGB V und Aufnahme in das Programm der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) um die medizinische Versorgung von 250.000–400.000 Betroffenen zu gewährleisten.
  2. Prüfung geeigneter Möglichkeiten zur Information der Öffentlichkeit über das Krankheitsbild ME/CFS und den somatischen Hintergrund in Form einer Aufklärungskampagne.“

Redaktion: tbe
Editor: jhe, mha, dha


Quellen

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