Ein Foto der Forderungen des Offenen Briefs auf einem Holztisch

Offener Brief an Kassenärztliche Vereinigungen fordert zusätzlichen Einsatz zur Umsetzung der Long COV-RL

Offener Brief an Kassenärztliche Vereinigungen fordert zusätzlichen Einsatz zur Umsetzung der Long COV-RL

#LiegendDemo und DG.ME/CFS initiieren Brief zur Verbesserung der Versorgung von ME/CFS-Erkrankten

Die Initiative #LiegendDemo und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS (DG.ME/CFS) haben, unterstützt durch die Lost Voices Stiftung und ME-Hilfe, einen offenen Brief an die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder geschrieben. In diesem verweisen sie auf die am 9. Mai in Kraft getretene „Richtlinie über eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung für Versicherte mit Verdacht auf Long-COVID und Erkrankungen, die eine ähnliche Ursache oder Krankheitsausprägung aufweisen“ (Long COV-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu Long COVID und Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) und die Herausforderungen, die es in der Umsetzung in Bezug auf die Versorgung der ME/CFS-Erkrankten zu bewältigen gilt.

Die Richtlinie betont die Notwendigkeit einer interdisziplinären und standardisierten Diagnostik sowie des zeitnahen Zugangs zu einem multimodalen Therapieangebot. Sie hebt hervor, dass die Versorgung effizient und den Beschwerden der Betroffenen angemessen gestaltet werden soll. Neben der Benennung von Post-Exertioneller-Malaise (PEM) als Kernsymptom von ME/CFS, beschreibt die Richtlinie die hausärztliche Versorgungsebene als primären Ansprechpartner, sowie PEM-Screenings bei Verdacht auf ME/CFS und eine erste Schweregradbeurteilung. Einen ausführlichen Artikel zum Inhalt der Richtlinie finden Sie hier.

Die genannten Organisationen sehen die nötigen Voraussetzungen zur Umsetzung der Richtlinie jedoch als nicht gegeben an. Im deutschsprachigen Raum existiert keine eigene medizinische Leitlinie und ME/CFS ist nicht expliziter Gegenstand des ärztlichen Lernzielkataloges. Daher ist das Wissen über die Erkrankung in der Ärzteschaft unzureichend. Der aktuelle Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS hält fest: „Auch ist die Erkrankung, ihre Symptome und Diagnostik Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen häufig unbekannt oder nicht hinreichend trennscharf bekannt [...]“ (S. 29). Zusätzlich stehen die in der Richtlinie explizit vorgesehenen Versorgungsstrukturen im Bereich der spezialisierten ambulanten Versorgung für nicht-COVID assoziierte ME/CFS-Erkrankte nicht zur Verfügung. In Deutschland gibt es aktuell lediglich zwei ME/CFS-Ambulanzen mit regionalen und weiteren Zugangsbeschränkungen.

Daher bitten die Organisationen die Kassenärztlichen Vereinigungen:

  • Haus- und Fachärzt*innen zu den Inhalten der neuen Richtlinie, v. a. auch in Bezug auf alle inkludierten Patientengruppen, aufzuklären.
  • Haus- und Fachärzt*innen forciert und flächendeckend mit von ME/CFS-Expert*innen und nach aktuellem Stand der Wissenschaft konzipierten Fortbildung aufzuklären und damit der entsprechenden Empfehlung der Richtlinie sowie der Schwere und Häufigkeit der Erkrankung angemessen nachzukommen.
  • Dafür zu sorgen, dass schwerer eingeschränkte ME/CFS-Patient*innen oder komplexer Erkrankte die von der Richtlinie explizit vorgesehenen Hausbesuche oder telemedizinische Versorgungsangebote erhalten, da sie ansonsten aufgrund ihrer krankheitsspezifischen Einschränkungen (v. a. PEM sowie Reizempfindlichkeit) weiterhin von der Versorgung ausgeschlossen bleiben.
  • Sich im Schulterschluss mit den Patientenorganisationen und der Politik dafür einzusetzen, dass spezialisierte ambulante Anlaufstellen für alle ME/CFS-Erkrankten, unabhängig vom Auslöser der Erkrankung, geschaffen werden (z.B. an Universitätskliniken).
  • Eine adäquate Vergütung mit den Krankenkassen auszuhandeln, damit ME/CFS- und Long-COVID-Patient*innen kostendeckend diagnostiziert und versorgt werden können.
  • Sich dafür einzusetzen, dass alle ME/CFS-Betroffenen, unabhängig vom Auslöser ihrer Erkrankung, im Rahmen der vom BMG in Auftrag gegebenen "Long COVID off-label-use"-Medikamentenliste berücksichtigt werden, um eine Zwei-Klassen-Medizin in Widerspruch zu den Grundsätzen der G-BA Versorgungsrichtlinie zu vermeiden.

Der Text des offenen Briefes:

Versorgung ME/CFS-Erkrankter gemäß der Long-COVID-Richtlinie des G-BA

Sehr geehrte …,

wie Ihnen bekannt ist, ist am 9. Mai die „Richtlinie über eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung für Versicherte mit Verdacht auf Long COVID und Erkrankungen, die eine ähnliche Ursache oder Krankheitsausprägung aufweisen“ (LongCOV-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in Kraft getreten. Die Richtlinie schließt explizit die Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) nach allen Auslösern ein. Um die Umsetzung der Richtlinie für ME/CFS-Erkrankte sicherzustellen, wenden wir uns im Namen der unterzeichnenden Organisationen an Sie, die Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder und des Bundes (KBV).

Die Richtlinie stellt einen wichtigen Schritt in der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf Long COVID und Erkrankungen mit ähnlicher Ursache oder Krankheitsausprägung dar, einschließlich ME/CFS nach allen Auslösern. ME/CFS wird in der Versorgung leider häufig übersehen. Daher wenden wir uns in diesem offenen Brief mit der Anfrage an Sie, wie Sie planen, die Versorgung von ME/CFS-Erkrankten unabhängig vom Auslöser, der Häufigkeit und Schwere der Erkrankung angemessen gemäß der G-BA Richtlinie umzusetzen.

ME/CFS (ICD-10 G93.3) ist bereits seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung anerkannt. Sie tritt häufig nach Infekten auf, wie dem Pfeifferschen Drüsenfieber, der Influenza und in den letzten Jahren COVID-19. Vor der Pandemie waren bereits ca. 250.000 Menschen in Deutschland an ME/CFS erkrankt[1] und weitgehend ohne Versorgung.[2] Es gibt derzeit keine evidenzbasierten kausalen Therapien. Die Behandlung erfolgt in der Regel symptomorientiert, teilweise mit Medikamenten im Off-Label-Use. Durch SARS-CoV-2-Infektionen sind die Fallzahlen deutlich gestiegen und die Dringlichkeit der strukturierten Versorgung postakut-infektiöser Syndrome (PAIS) wie ME/CFS in den Fokus gerückt. ME/CFS ist eine eigenständige Krankheitsentität, nicht zu verwechseln mit dem Symptom chronische Fatigue, das auch bei anderen Erkrankungen auftreten kann, und umfasst einen klar definierten Symptomkomplex mit dem Kernsymptom Post-Exertionelle Malaise (PEM) – die Verschlechterung aller Symptome nach körperlicher oder kognitiver Belastung sowie Sinnesreizen. Die Diagnose erfolgt anhand etablierter klinischer Diagnosekriterien und validierter Fragebögen. ME/CFS kann zu einem hohen Grad der Behinderung sowie Pflegebedürftigkeit führen. Über 60 % der Betroffenen sind arbeitsunfähig[3] und ca. 25 % aufgrund ihrer schweren Einschränkungen haus- oder bettgebunden[4].

Die Richtlinie betont die Notwendigkeit einer interdisziplinären und standardisierten Diagnostik sowie den zeitnahen Zugang zu einem multimodalen Therapieangebot. Sie hebt hervor, dass die Versorgung effizient und den Beschwerden der Betroffenen angemessen gestaltet werden soll. Besonders erwähnenswert ist die klare Benennung von PEM als Kernsymptom von ME/CFS. Als primärer Ansprechpartner für die Erkrankten wird die hausärztliche Versorgungsebene benannt. So sollen bereits auf hausärztlicher Versorgungsebene bei Verdacht auf ME/CFS PEM-Screenings durchgeführt werden, ME/CFS-Diagnosekriterien und Komorbiditäten geprüft sowie eine erste Schweregradbeurteilung durchgeführt werden, um eine zeitnahe und an die krankheitsspezifischen Einschränkungen der Patientinnen und Patienten adaptierte Diagnostik und Versorgung zu gewährleisten und damit weitere Zustandsverschlechterungen zu vermeiden.

Die dafür benötigten Voraussetzungen sehen wir aktuell in allen von der Richtlinie vorgesehenen Versorgungsebenen nicht gegeben. Im deutschsprachigen Raum existiert keine eigene medizinische Leitlinie und ME/CFS ist bislang nicht expliziter Gegenstand des ärztlichen Lernzielkatalogs. Der aktuelle Bericht desInstituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS hält fest: „Auch ist die Erkrankung, ihre Symptome und Diagnostik Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen häufig unbekannt oder nicht hinreichend trennscharf bekannt [...]“[5]. Dies deckt sich mit den anhaltend an uns gespiegelten Erfahrungen von Patientinnen und Patienten auf allen von der Richtlinie adressierten Versorgungsebenen. Insbesondere das Kernsymptom PEM, aber auch Diagnosekriterien, Schweregrade und Therapieempfehlungen nach aktuellem Stand der Wissenschaft sind laut Erfahrungsberichten vielen Ärztinnen und Ärzten unbekannt.

Erschwerend kommt hinzu, dass von der Richtlinie explizit vorgesehene Versorgungsstrukturen im Bereich der spezialisierten ambulanten Versorgung für nicht COVID-assoziierte ME/CFS-Erkrankte nicht ausreichend und flächendeckend zur Verfügung stehen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind uns lediglich eine ME/CFS-Ambulanz für Erwachsene an der Charité Berlin und eine für Kinder und Jugendliche an der TU München bekannt. Aus Kapazitätsgründen sind beide Ambulanzen lokal zugangsbeschränkt, und eine Vorstellung ist mit langen Wartezeiten verbunden. Diese Versorgungslücke wurde bereits im aktuellen IQWiG-Bericht[6] und in der DEGAM-S3-Leitlinie Müdigkeit[7] erwähnt und u. a. als Faktor der als problematisch bewerteten Versorgungssituation Betroffener in Deutschland aufgeführt. In Folge können sich Leistungserbringende der haus- und fachärztlichen Versorgungsebene nicht auf einen bei anderen schweren und komplexen Erkrankungen üblichen Versorgungspfad unter Einbezug spezialisierter ambulanter Versorgungsangebote verlassen.

Die in Kraft getretene Long-COVID-Richtlinie birgt Potenzial für eine deutliche und nachhaltige Verbesserung der Versorgung ME/CFS- und Long-COVID-Erkrankter in Deutschland. Die Umsetzung der Richtlinie in Bezug auf alle ME/CFS-Erkrankten unabhängig vom Auslöser ihrer Erkrankung sehen wir jedoch aufgrund von Wissensdefiziten der Leistungserbringenden aller Versorgungsebenen und fehlender Strukturen zum aktuellen Zeitpunkt als nicht gewährleistet.

Es ist nun die Verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen sicherzustellen, dass diese Richtlinie in der Praxis umgesetzt wird und dass die Versorgung von ME/CFS-Patientinnen und Patienten den in der Richtlinie festgelegten Standards nach aktuellem Stand der Wissenschaft entspricht. Um die beschlossenen Versorgungspfade und den damit einhergehenden Versorgungsanspruch für alle ME/CFS-Erkrankten zu gewährleisten, bitten wir Sie daher:

  • Haus- und Fachärzt*innen zu den Inhalten der neuen Richtlinie, v. a. auch in Bezug auf alle inkludierten Patientengruppen, aufzuklären.
  • Haus- und Fachärzt*innen forciert und flächendeckend mit von ME/CFS-Expert*innen und nach aktuellem Stand der Wissenschaft konzipierten Fortbildung aufzuklären und damit der entsprechenden Empfehlung der Richtlinie sowie der Schwere und Häufigkeit der Erkrankung angemessen nachzukommen. Bereits bestehende On-Demand-Fortbildungen befinden sich beispielsweise auf der Seite des Charité Fatigue Centrums und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.
  • Dafür zu sorgen, dass schwerer eingeschränkte ME/CFS-Patient*innen oder komplexer Erkrankte die von der Richtlinie explizit vorgesehenen Hausbesuche oder telemedizinische Versorgungsangebote erhalten, da sie ansonsten aufgrund ihrer krankheitsspezifischen Einschränkungen (v. a. PEM sowie Reizempfindlichkeit) weiterhin von der Versorgung ausgeschlossen bleiben.
  • Sich im Schulterschluss mit den Patientenorganisationen und der Politik dafür einzusetzen, dass spezialisierte ambulante Anlaufstellen für alle ME/CFS-Erkrankten, unabhängig vom Auslöser der Erkrankung, geschaffen werden (z.B. an Universitätskliniken).
  • Eine adäquate Vergütung mit den Krankenkassen auszuhandeln, damit ME/CFS- und Long-COVID-Patient*innen kostendeckend diagnostiziert und versorgt werden können.
  • Sich dafür einzusetzen, dass alle ME/CFS-Betroffenen, unabhängig vom Auslöser ihrer Erkrankung, im Rahmen der vom BMG in Auftrag gegebenen "Long COVID off-label-use"-Medikamentenliste berücksichtigt werden, um eine Zwei-Klassen-Medizin in Widerspruch zu den Grundsätzen der G-BA Versorgungsrichtlinie zu vermeiden.

Die unterzeichnenden Organisationen sind bereit, Sie bei der Umsetzung der Richtlinie konstruktiv zu unterstützen, damit sie den Bedürfnissen aller von ihr erfassten Erkrankten gerecht wird.

Dieser offene Brief wird ebenso wie Ihre Antwort veröffentlicht.

Mit freundlichen Grüßen

 

 

[1] Scheibenbogen et al. (2019), Chronisches Fatigue-Syndrom/CFS – Praktische Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie, Ärzteblatt Sachsen, 26–30, Sächsische Landesärztekammer, Dresden.

[2] Froehlich et al. (2021), Medical care situation of people with Myalgic Encephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome in Germany. Medicina, 57(7), 646. https://doi.org/10.3390/medicina57070646.

[3] Bateman et al. (2014), Chronic fatigue syndrome and comorbid and consequent conditions: evidence from a multi-site clinical epidemiology study, Fatigue: Biomedicine, Health & Behavior, doi: 10.1080/21641846.2014.978109.

[4] Institute of Medicine (2015), Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, National Academies Press, Washington, DC.

[5] IQWiG (2023), ME/CFS: Der aktuelle Kenntnisstand, S. 29.

[6] IQWiG (2023), ME/CFS: Der aktuelle Kenntnisstand, S. 29.

[7] DEGAM (2022), Leitlinie Müdigkeit, S. 60.

 

Redaktion: tel, jba, smü, msc, mda