Eine Manschette zum Blutdruckmessen und ein Stethoskop liegen auf einem Tisch.

Neue Fassung der S3-Leitlinie „Müdigkeit“ veröffentlicht

Neue Fassung der S3-Leitlinie „Müdigkeit“ veröffentlicht

Fortschritt mit Limitierungen

Das Kapitel zu ME/CFS (Kapitel 5.7 der Leitlinie) wurde grundlegend und durch die Expertinnen Prof. Scheibenbogen und Prof. Behrends und den Einsatz der Patientenorganisationen überarbeitet. Das neue Kapitel ist ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zur Vorgängerversion. Das Ergebnis ist noch nicht in allen Punkten perfekt, gibt aber nun allen Behandler*innen und Erkrankten eine an neuer wissenschaftlicher Literatur orientierte Übersicht über Diagnostik und Therapie.

Die Patientenorganisationen Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Fatigatio e. V. Bundesverband ME/CFS und die Lost Voices Stiftung erreichten durch intensive inhaltliche Arbeit eine deutliche Verbesserung der Empfehlungen für die Versorgung in der allgemeinmedizinischen Praxis. Auch alle Kurzversionen und Zusatzmaterialien wurden überarbeitet, damit medizinisches Personal auch unter Zeitdruck rasch einen Überblick gewinnen kann.

Erstmals berücksichtigen bereits die Kernempfehlungen die Besonderheiten der Diagnostik und Therapie, die charakteristische Belastungsintoleranz und empfehlen, dass aktivierende Maßnahmen nicht angewendet werden sollen.

Entwicklung der Leitlinie „Müdigkeit“ und des neuen Kapitels zu ME/CFS 

Die neue Leitlinie ersetzt die veraltete – und von Anfang an wissenschaftlicher Kritik ausgesetzte – Vorgängerversion aus dem Jahr 2017.

Die Überarbeitung begann im August 2020. Die Patientenorganisationen Fatigatio e. V. Bundesverband ME/CFS, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Lost Voices Stiftung nahmen als Patientenvertretung am Leitlinienprozess teil. Sie bildeten dafür eine Arbeitsgruppe und reichten in den letzten zweieinhalb Jahren kontinuierlich gemeinsam ausgearbeitete Schreiben, Kommentare und Literatur zu den Entwürfen der Leitlinie ein und beteiligten sich an zahlreichen Videocalls wie der Konsenskonferenz der DEGAM und AWMF. Die Initiative #MillionsMissing Deutschland bewarb sich 2020 bei der DEGAM um Beteiligung, konnte jedoch als Netzwerk ohne Rechtsform (Verein o. ä.) nicht am Leitlinienprozess teilnehmen.

Erstmals waren die beiden ME/CFS-Expertinnen Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen und Prof. Dr. Uta Behrends als offizielle Mitautorinnen an der Überarbeitung des Kapitels zu ME/CFS beteiligt.

Ebenfalls zum ersten Mal erhielten die ME/CFS-Patientenorganisationen und die ME/CFS-Expertinnen Prof. Scheibenbogen und Prof. Behrends ein Stimmrecht im Leitlinienprozess. Insgesamt gab es bei den Abstimmungen 16 Stimmen, von denen 5 auf die Lost Voices Stiftung, den Fatigatio e. V., die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Prof. Scheibenbogen und Prof. Behrends entfielen.

Allgemeines

Die neue Leitlinie schließt sich dem internationalen wissenschaftlichen Konsens an und nutzt nun die Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische Fatigue-Syndrom, kurz: ME/CFS.

Das Leitsymptom Post-Exertional Malaise steht im Mittelpunkt des neuen Kapitels 5.7 zu ME/CFS. Post-Exertional Malaise (kurz: PEM) ist die Verschlechterung der Symptomatik nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung (Belastungsintoleranz).

Das neue Kapitel 5.7 zu ME/CFS bedeutet eine Abkehr von früheren biopsychosozialen Erklärungsmodellen und aktivierenden Therapien, für die keine Evidenz vorliegt und die potenziell den Erkrankten schaden. Stattdessen wird übereinstimmend mit dem aktuellen Forschungsstand und internationalen Gesundheitsbehörden Pacing, also das strikte Einhalten der Energiegrenzen, empfohlen.

Zur Diagnosestellung von ME/CFS werden für das Screening in der Primärversorgung die IOM-Kriterien (Institute of Medicine (heute National Academy of Medicine), USA) und für die weiterführende Diagnostik die ausführlicheren Kanadischen Konsensuskriterien empfohlen.

Auch die Schweregrade der Erkrankung bis hin zur Pflegebedürftigkeit und künstlichen Ernährung, der Bedarf an Pflegeleistungen und Hilfsmitteln, die sehr niedrige Lebensqualität, die ungenügende Versorgungslage und der Forschungsbedarf werden thematisiert.

Die Empfehlungen orientieren sich insbesondere an der britischen ME/CFS-Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Die NICE-Leitlinie wurde über vier Jahre von einem großen Panel aus Fachleuten von Grund auf neu erarbeitet und im letzten Herbst 2021 veröffentlicht. Im Rahmen der Überarbeitung führte die britische Gesundheitsbehörde eine systematische Literaturrecherche durch, die 20.000 Studien erfasste, davon ca. 2000 prüfte und ca. 150 im Review inkludierte.

Für vertiefende Informationen zu ME/CFS verweist die DEGAM zudem auf die Leitlinie des europäischen Netzwerks für ME/CFS (EUROMENE), die Empfehlungen der Centers of Disease Control and Prevention (CDC) und den Bericht der Expertenkommission des Institute of Medicine (IOM).

Die Kernempfehlungen und der ausführliche Text des Kapitels 5.7. (ab S. 55) findet sich hier.

Paradigmenwechsel: Abkehr von aktivierenden Therapien 

Das Kapitel über ME/CFS verdeutlicht, dass keine aktivierenden Therapien mehr angeboten werden dürfen.

In Kapitel 3 (S. 12) werden wie üblich für Leitlinien die Kernempfehlungen der gesamten Leitlinie zu allen Erkrankungen zusammengefasst. Auch hier wird ME/CFS explizit als Ausnahme genannt und von allen Empfehlungen für aktivierende Therapien ausgenommen. Körperliche Aktivierung soll bei ME/CFS nicht mehr angeboten werden. 

Weitere Kernempfehlungen zu ME/CFS: 

In der Empfehlung 5.1.4 wurde die Post-Exertionelle Malaise als verpflichtende Anamnesefrage bei ungeklärter Müdigkeit aufgenommen. Dies ist wichtig, denn so soll das Leitsymptom von ME/CFS in Hausarztpraxen standardmäßig abgefragt werden.

Die Empfehlung 5.1.5 beschreibt nun, ab wann ME/CFS diagnostiziert werden kann/soll:

„Bei mindestens seit 3 Monaten anhaltender bisher ungeklärter Müdigkeit sollten die ME/CFS-Kriterien nach Institute of Medicine (IOM) eruiert werden, um eine Verdachtsdiagnose zu stellen, die nach 6 Monaten zu reevaluieren wäre.“

Die Kernempfehlung 6.5 besagt:

„A. Bei einer großen Zahl von zugrunde liegenden Störungen oder Erkrankungen verbessern Verhaltenstherapie oder/und symptomorientierte aktivierende Maßnahmen die Müdigkeit und das Allgemeinbefinden und sollen in diesen Fällen angeboten werden.*
*Dies betrifft nicht ME/CFS einschließlich Verdachtsdiagnose.”
„B. Bei ungeklärter Müdigkeit können Verhaltenstherapie oder/und symptomorientierte aktivierende Maßnahmen angeboten werden. Die betrifft nicht ME/CFS einschließlich Verdachtsdiagnose. Hierbei sind die individuelle Reaktion darauf zu beobachten und ggf. die Maßnahmen anzupassen oder zu beenden. [...]“
„C. Bei ME/CFS soll keine körperlichen Aktivierungen auf Basis des Dekonditionierungskonzeptes angeboten werden. Zu beachten ist die Belastungsintoleranz mit unterschiedlicher Latenz. Eine Verhaltenstherapie kann angeboten werden, insbesondere zur Therapie von Begleitsymptomen.”

Problematische Stellen der Leitlinie 

Es gibt weiterhin kritikwürdige Stellen. Einige Stellen aus der alten Leitlinie blieben bestehen, obwohl sie dem neuen Inhalt widersprechen. Dieser Widerspruch wurde im Leitlinienprozess mehrfach von den Patientenorganisationen offiziell angemerkt und kritisiert.

Auch wurde kurz vor Ende des Prozesses unter erheblichem Druck unter monatelangen Auseinandersetzungen ein Sondervotum durch die Fachgesellschaften DKPM, DGPM, DGIM und DGPPN durchgesetzt. Ein solches Sondervotum kann prinzipiell bei abweichender Meinung beteiligter Fachgesellschaften beantragt werden. Die Patientenorganisationen sowie EUROMENE riefen die AWMF jedoch mehrfach an, dass das Sondervotum die wissenschaftlichen Qualitätsstandards einer Leitlinie verletzt und Schadenspotential für Erkrankte enthält. Ein Sondervotum, das sich zudem „wie aus dem Nichts“ am Ende des Prozesses – nach zweijährigem gemeinsamem Erarbeiten des Leitlinientextes und nach der Konsentierung über die Kernempfehlungen – gegen ein gesamtes Kapitel und die zugehörigen Kernempfehlungen wendet, führt den Leitlinienprozess ad absurdum.

Schon in der wissenschaftlichen Bewertung der im Sondervotum zitierten Literatur kommt der geringe Gehalt der Evidenz zum Ausdruck, werden doch die meisten eingebrachten Literaturstellen mit Level 5 bewertet, was dem niedrigsten wissenschaftlichen Level entspricht.

Die genauen Hintergründe um das Sondervotum finden sich im Leitlinienreport ab S. 163, Kapitel 4.3. Hier findet sich auch bereits eine teilweise klärende Stellungnahme der DEGAM (Kapitel 4.3.2).

Die Patientenorganisationen haben sich intensiv mit den Versionen des Sondervotums auseinandergesetzt und fundiert wissenschaftlich begründet, warum das Sondervotum haltlos ist und Schadenspotential für Erkrankte enthält. Der komplette Text unserer Replik(en)165 im Kapitel 4.3.3. Darin wird der wissenschaftliche Wert des Sondervotums bestritten und dieses widerlegt.

Ein entsprechender Verweis auf die Repliken wurde am Ende des Sondervotums in die Leitlinie eingefügt:

„Die Patientenvertretungen (zu ME/CFS) und Vertreterinnen von EUROMENE schätzen dieses Sondervotum wissenschaftlich kritisch ein und befürchten Schaden für Betroffene. Weitere Details zum Sondervotum und die wissenschaftlich begründeten Repliken siehe Leitlinienreport Kapitel 4.3.“ 

Weitere Materialien zur Leitlinie 

Auch die begleitenden Materialien der Leitlinie wurden angepasst. 

Besonders wichtig war es den Patientenorganisationen, dass sich das moderne wissenschaftliche Verständnis von ME/CFS auch in den Kurzfassungen der Leitlinie Müdigkeit wiederfindet. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung im ärztlichen Bereich findet die Schnell-Orientierung über ein Krankheitsbild oft mithilfe der Kurzfassungen statt. Bisher lag hier eine Einordnung von ME/CFS im Tabellenbereich der psychischen Erkrankungen vor – in den neuen Materialien wird ME/CFS nun im Bereich der somatischen Erkrankungen eingeordnet und PEM erwähnt. 

Hinweis

ME/CFS benötigt als häufige und schwere Erkrankung wie in anderen Ländern eine eigene Leitlinie. So ist es auch in Deutschland Standard, für größere Krankheiten (wie MS oder Asthma) eigene LL zu führen. Zudem stellt sich die Frage, ob die Leitlinie Müdigkeit prinzipiell ein unpassender Ort ist, um ME/CFS zu besprechen, da Müdigkeit nicht zu den Kernsymptomen von ME/CFS gehört. Auch kann die Betreuung der oft schwer kranken Patient*innen nicht allein Hausärzt*innen übertragen werden. Die drei ME/CFS-Patientenorganisationen haben dies von Beginn des Leitlinienprozesses an explizit gegenüber der DEGAM und AWMF vertreten. Solange ME/CFS jedoch – wie es seit 2011 der Fall ist – in der Leitlinie Müdigkeit besprochen wird und sich Ärzt*innen, Behörden und Sozialgerichte auf die Ausführungen beziehen, ist es grundlegend wichtig, dass die Erkrankung angemessen dargestellt wird. Dies wurde jetzt in weiten Teilen erreicht. Die Patientenorganisationen setzen sich darüber hinaus weiterhin für eine eigene Leitlinie zu ME/CFS ein.

Fazit und Ausblick

Zum ersten Mal wird ME/CFS in Deutschland von einer Leitlinie gemäß dem internationalen Forschungsstands dargestellt. Das neue Kapitel 5.7 bedeutet eine Abkehr von aktivierenden Therapien und psychosomatischen Erklärungsmodellen für ME/CFS.

Die schwerwiegenden Auswirkungen der Erkrankung werden erstmals benannt – wie u. a. Erwerbs- und Schulunfähigkeit, Schwerbehinderung, Pflegebedürftigkeit und der Bedarf von Hilfsmitteln. Dies hat das Potential die Situation Betroffener konkret zu verbessern, da gegenüber Behörden, Schulen und Sozialgerichten darauf verwiesen werden kann. Die deutliche Abkehr von aktivierenden Therapien stellt nach Jahrzehnten einen wissenschaftlichen Durchbruch dar. Zum ersten Mal wird die Post-Exertional Malaise als Leitsymptom benannt. Die Empfehlungen für eine frühzeitige Diagnosestellung anhand der Kanadischen Konsensuskriterien und Pacing als Strategie zum Krankheitsmanagement können zukünftig vielen Patient*innen ersparen, durch eine um Jahre/Jahrzehnte verspätete Diagnose und kontraindizierte Therapien immer kränker zu werden.

Es ist grundlegend wichtig und als Fortschritt zu werten, dass diese Ausführungen und Empfehlungen nun erstmals in der Leitlinie festgeschrieben sind. Auch wenn problematische Stellen und das Sondervotum verbleiben, stellt die neue Leitlinie im Vergleich zur Leitlinie 2017/2018 eine deutliche Kehrtwende dar, die das Leben Betroffener erleichtern kann und weitere Entwicklungen anstoßen wird.

Gleichwohl ist enttäuschend, dass sich vier Fachgesellschaften mit mangelhafter wissenschaftlicher Begründung gegen systematische Reviews von NICE oder dem IOM stellen (können) und die AWMF dies für regelkonform hält.

Weiterhin ist es ernüchternd, dass eine Leitlinie ein Fortschritt ist, die keine wirksame Behandlung enthält und lediglich besagt, dass Patient*innen die Diagnose erhalten, nicht stigmatisiert und nicht durch kontraindizierte Behandlungen kränker gemacht werden sollen. Was für ME/CFS einen Durchbruch darstellt – und wofür Patient*innen und Wissenschaftler*innen sich jahrzehntelang einsetzen – ist eine Selbstverständlichkeit bei anderen Krankheiten. Für ME/CFS-Patient*innen, die in den letzten Jahrzehnten bettlägerig und pflegebedürftig geworden oder gestorben sind, kommen diese „Basics“ zu spät. Die Leben von vielen Betroffenen wurden zerstört. Institutionen, die sie hätten schützen sollen, ignorierten die wissenschaftliche Evidenz und Erfahrungen der Patient*innen. Eine Lehre muss sein, Patient*innen zuzuhören, sie ernst zu nehmen und miteinzubeziehen. „Nichts über uns ohne uns“ muss zum zentralen Motiv der Medizin und Politik allgemein und beim Thema ME/CFS insbesondere werden.

Entscheidend ist nun, dass die Informationen tatsächlich zeitnah in der ärztlichen Praxis, weiteren Gesundheitsberufen, Reha-Einrichtungen, Behörden und Sozialgerichten ankommen und umgesetzt werden. Dafür setzen sich die ME/CFS-Patientenorganisationen ein. Hier sind das Gesundheits- und Sozialwesen sowie die Politik gefordert. Es braucht – wie im Aktionsplan der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland und in der Petition des Teams SIGN for ME/CFS gefordert – dringend eine groß angelegte Aufklärungskampagne unter Einbeziehung von Betroffenen.

Links rund um die Leitlinie

  • Leitlinie Müdigkeit (Kapitel zu ME/CFS ab Punkt 5.7, Seite 55) → Link
  • Begleitende Materialien → Link

Redaktion: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Fatigatio, Lost Voices Stiftung