Long COVID umfasst Symptome, die nach einer akuten COVID-19-Erkrankung neu auftreten und Wochen oder Monate nach Erkrankungsbeginn anhalten.
Was ist Long COVID?
Was ist Long COVID?
Postvirales Syndrom nach einer SARS-CoV-2-Infektion
Long COVID umfasst Symptome, die nach einer akuten COVID-19-Erkrankung neu auftreten und Wochen oder Monate nach Erkrankungsbeginn anhalten. Die Symptome können mit der Zeit abklingen oder sich zu einer chronischen Erkrankung entwickeln, die mit einer starken Einschränkung der Lebensqualität einhergeht und häufig zu Arbeitsunfähigkeit führt.
Long COVID ist dabei ein Überbegriff für verschiedene Subtypen mit vermutlich unterschiedlicher Pathophysiologie und verschiedenen therapeutischen Bedarfen. Welche dies sind wird noch kritisch diskutiert. Yong und Liu (2021) schlugen beispielsweise sechs Subtypen vor: darunter Multiorgan-Spätschaden an Herz und Lunge, das Post-Intensive-CARE-Syndrom (PICS) und die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS).
Die für ME/CFS charakteristischen Symptome werden von einem bedeutsamen Teil der Long-COVID-Erkrankten berichtet und mehrere Studien deuten darauf hin, dass nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer circa die Hälfte der Long-COVID-Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt (Dehlia und Guthridge, 2024).
Definition und Name
Die Krankheitsbezeichnung Long Covid wurde erstmals von der Betroffenen Dr. Elisa Perego im Mai 2020 als Hashtag #LongCovid auf Twitter verwendet (Calard & Perego, 2021) und wurde anfangs vor allem auf Social Media von weiteren Betroffenen benutzt. Nach und nach wurde der von Patient*innen geschaffene Name auch von medizinischen Institutionen und in der Forschungsliteratur übernommen.
Nach Davis et al. (2020) tritt Long COVID auf, wenn Symptome mindestens 4 Wochen nach der COVID-19-Erkrankung anhalten.
Nach 3 Monaten anhaltender Symptomatik spricht das britische National Institute of Health Care and Excellence (NICE) von einem Post-COVID-Symdrom, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht nach 3 Monaten von Post-COVID.
Long COVID – Symptome
Long COVID beinhaltet eine Vielzahl von Symptomen, die verschiedene Organe und Körperregionen betreffen.
Die häufigsten Symptome sind systemischer und neurologischer Art (Davis et al., 2020):
- Post-Exertionelle Malaise (PEM): belastungsinduzierte Zustandsverschlechterung, auch Belastungsintoleranz genannt
- Fatigue: krankhafte Schwäche/Erschöpfung
- Konzentrationsstörungen
- Wortfindungsstörungen
- Gedächtnisprobleme
- Sprachstörungen
Schmerzsymptome:
- Kopfschmerzen
- Muskelschmerzen
- Gelenkschmerzen
- Brustschmerzen
autonome Dysfunktion:
- Herzrasen
- Palpitationen
- Schwindel/Benommenheit
- Orthostatische Intoleranz
Empfindungsstörungen: z. B. Brennen oder Kribbeln unter der Haut
Schlafstörungen:
- unerholsamer Schlaf
- Durchschlafstörungen
- Einschlafstörungen
- Kurzatmigkeit
- Engegefühl in der Brust
- Verlust oder Veränderung des Geruch- und Geschmackssinns
Abb. 1: Die häufigsten verbleibenden Symptome bei Long-COVID-Betroffenen 6 Monate nach der Infektion mit SARS-CoV-2. Entnommen und adaptiert aus Davis et al. (2020), CC BY-NC 4.0.
Long-COVID-Symptome können schubförmig auftreten und sich aufgrund des Symptoms der Post-Exertionelle Malaise nach körperlicher und/oder geistiger Tätigkeit verschlechtern. Diese belastungsinduzierte Zustandsverschlechterung kann direkt oder zeitversetzt nach wenigen Stunden oder Tagen auftreten und hält meist mehrere Tage an.
Betroffene erleben häufig Symptome einer autonomen Dysfunktion, die sich insbesondere in Form Orthostatischer Intoleranz zeigt (Stella et al., 2021; Eldokla et al., 2022; Pagen et al., 2023): Im Sitzen oder Stehen treten Symptome wie Herzrasen und Schwindel auf und die bestehende Symptomatik verschlechtert sich. Die Symptomatik verbessert sich mit einer gewissen Latenzzeit, sobald sich Betroffene in eine liegende Position begeben.
Einschränkung der Lebensqualität
Abb. 2: Verteilung der Long-COVID-Patient*innen nach ihrem allgemeinen Gesundheitszustand im Vergleich zu ihrer pre-COVID-Baseline: 0 bedeutet am weitesten weg, 100 am nächsten dran an ihrer Baseline. Entnommen und adaptiert aus Davis et al. (2020), CC BY-NC 4.0.
Verschiedene Studien belegen für Long-COVID-Betroffene einen deutlichen Verlust an Lebensqualität.
Logue et al. (2021) zeigen, dass 6 Monate nach der COVID-19-Erkrankung rund 30 % aller Patient*innen von einer reduzierten Lebensqualität berichten (Abfall des Gesundheitsstatus von mindestens 10 Punkten auf einer Skala von 0 bis 100). Im Schnitt geben Long-COVID-Betroffene an, bei nur knapp 60 % ihres gesundheitlichen Zustandes von vor der Infektion zu sein (Davis et al., 2020).
Nach Kedor et al. (2022) gilt bei 6-monatiger Dauer der Symptomatik sowohl für Long COVID, als auch für durch COVID-19 ausgelöstes ME/CFS, dass ca. zwei Drittel der Betroffenen nicht mehr oder nur noch in Teilzeit arbeiten können (Bell disability score < 60).
Dieser hohe Grad an Behinderung ist aus der ME/CFS-Forschung bereits bekannt: 75 % der ME/CFS-Betroffenen sind arbeitsunfähig (Unger et al., 2017) und 25 % sind an das Haus gebunden und häufig pflegebedürftig (Pendergrast et al., 2016).
Häufigkeit und Verlauf
Je nach Methodologie der Studien (Stichprobenrekrutierung, Beobachtungszeitraum nach der Infektion, abgefragte Symptome usw.) und je nach Level der Bevölkerungsimmunität zum Erhebungszeitpunkt (z. B. vor und nach der Impfung) ergeben sich unterschiedliche Häufigkeiten für das Auftreten von Long COVID.
Bevor die Impfung gegen COVID-19 großflächig verfügbar war, kamen verschiedene großangelegte Studien auf eine Long-COVID-Inzidenz von etwa 10-15 % der Infizierten (Office for National Statistics (ONS); Ballering et al., 2022). Dieser Anteil liegt im Einklang mit neu auftretenden und anhaltenden Symptomen nach anderen Infektionskrankheiten wie bspw. dem Pfeifferschen Drüsenfieber, das ein häufiger Auslöser von ME/CFS ist (Choutka et al., 2022).
Verschiedene Studien zeigen etwa eine Halbierung des Long-COVID-Risikos nach doppelter Impfung (Ayoubkhani et al., 2022; Emecen et al., 2022; Kuodi et al., 2022; Tsampasian et al., 2023) und eine dreifache Impfung scheint gegenüber einer doppelten Impfung das Risiko für Long COVID weiter zu senken (Robertson et al., 2022; Spiliopoulos et al., 2022; Woldegiorgis et al., 2023). Eine Meta-Analyse von Marra et al. (2023) ermittelte eine Reduktion des Long-COVID-Risikos nach doppelter Impfung um 37 % und nach dreifacher Impfung um 69 %. So berichten nach ONS-Daten (siehe Abb. 5) 12 Wochen nach der Infektion noch etwa 4 % der Dreifach-Geimpften von Long-COVID-Symptomen. Zudem sinkt das Risiko, Long COVID nach einer Reinfektion zu entwickeln nach ONS-Daten um ca. ein Viertel.
Während zu Beginn der Long-COVID-Erkrankung eine gute Chance auf Besserung oder gar Ausheilung der Symptomatik besteht, zeigt sich nach einigen Monaten eine starke Tendenz zur Chronifizierung der Symptome: Von Long-COVID-Erkrankten, die 2 Monate nach der SARS-CoV-2 -Infektion noch Symptome berichteten, hatten in der Studie von Tran et al. (2022) 85 % auch ein ganzes Jahr nach Krankheitsbeginn noch Symptome. Ein ähnlicher Chronifizierungsanteil zeigt sich auch noch nach zwei Jahren (Wahlgren et al. 2023; Mateu et al., 2023) Aus der ME/CFS-Forschung ist bekannt, dass auch über einen Beobachtungszeitraum von mehreren Jahren nur wenige Betroffene wieder gesund werden (Cairns und Hotopf, 2005; Ghali et al., 2022).
Aufgrund des hohen Infektionsgeschehens im Verlauf der Pandemie ist inzwischen ein signifikanter Anteil der Gesamtbevölkerung von Long COVID betroffen. Verschiedene Erhebungen kommen auf eine Long-COVID-Prävalenz von 3 bis 7 % (ONS; CDC; Robertson et al., 2022). Etwa 0,5 bis 1,8 % der Gesamtbevölkerung ist aufgrund von Long COVID stark in seiner Alltagsaktivität eingeschränkt.
Abb. 4: Zeitlicher Verlauf des Anteils der Menschen, die vor der großflächigen Verfügbarkeit der Impfung anhaltende Symptome nach COVID-19 berichteten. In der Kontrollgruppe ohne durchgemachte SARS-CoV-2-Infektion werden die abgefragten Symptome deutlich seltener berichtet. Quelle: Office for National Statistics.
Abb. 5: Häufigkeit von Long COVID bei dreifach Geimpften 12 Wochen nach der SARS-CoV-2-Infektion. Quelle: Office for National Statistics.
Wie hoch ist der Anteil von ME/CFS-Kranken bei Long COVID?
Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom tritt typischerweise nach Infektionserkrankungen auf. 3 von 4 Betroffenen berichten, dass sie zum Zeitpunkt des Beginns ihrer ME/CFS-Erkrankung eine Infektion durchgemacht haben. In der Forschung beschrieben ist ME/CFS u. a. nach dem Epstein-Barr-Virus, der Influenza, Enteroviren und SARS-CoV-1. Postinfektiöse Syndrome sind in der medizinischen Literatur schon seit mind. 80 Jahren bekannt.
Für SARS-CoV-2 zeigen Roessler et al. (2022) bei Erwachsenen anhand von Krankenkassendaten, dass nach COVID-19 dreimal so viele an ME/CFS neu erkranken wie nicht infizierte Kontrollpersonen. In der Studie von Sørensen et al. (2022) berichten COVID-Erkrankte 2,7 mal häufiger eine neue ME/CFS-Diagnose im Vergleich zur Kontrollgruppe und Nehme et al. (2022) stellen mithilfe des DSQ-PEM-Fragebogen bei SARS-CoV-2-Positiven über 6 Monate nach der Infektion ME/CFS doppelt so häufig fest wie wie bei Kontrollen. Diese Daten bestätigen, dass auch SARS-CoV-2 ME/CFS auslösen kann.
Aus der SARS-Pandemie 2002/2003 ist bekannt, dass ein großer Anteil von hospitalisierten Personen mit schwerem Verlauf anschließend an ME/CFS erkrankten. Lam et al. (2009) diagnostizierten bei SARS-Überlebenden 4 Jahre nach ihrer Hospitalisierung bei 27 % ME/CFS (Fukuda-Kriterien). Ähnlich hohe Anteile zeigen sich auch bei COVID-19: Über ein halbes Jahr nach der Erkrankung leiden zwischen 13 und 19 % der hospitalisierten COVID-19-Patient*innen an ME/CFS (Gonzalez- Hermosillo et al., 2021).
Nach einer US-amerikanischen Untersuchung war die Mehrheit der Long-COVID-Betroffenen (75 %) nicht hospitalisiert gewesen. In vielen Studien zeigt sich, dass circa die Hälfte der Long-COVID-Patient*innen nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt (Mancini et al., 2021; Kedor et al., 2022; Haffke et al., 2022; Jason und Islam, 2022; Tokumasu et al., 2022; Sotzny et al., 2022; Jason und Dorri, 2022; Bonilla et al., 2023; Legler et al., 2023; Kuchler et al., 2023; Reuken et al., 2023; Paffrath et al., 2024; Cornelissen et al., 2024; Bodey et al., 2024; Weigel et al., 2024; Grach et al., 2024). In den Studien sind zwar möglicherweise schwerer betroffene Long-COVID-Erkrankte überrepräsentiert, z. B. weil diese eher die Ambulanzen aufsuchen (Selektionsbias), sodass bei Betrachtung aller Long-COVID-Betroffener der ME/CFS-Anteil niedriger sein könnte. Jedoch ist schon jetzt klar, dass ME/CFS eine große und relevante Subgruppe von Long COVID ausmacht. Daher rechnen Expertinnen und Experten in Folge der COVID-19-Pandemie mit einem drastischen Anstieg der Zahl ME/CFS-Erkrankter weltweit.
Aufgrund der großen Überschneidung von ME/CFS und Long COVID haben sich grundlegende Termini und Konzepte aus der ME/CFS-Forschung inzwischen auch für Long COVID etabliert, wie z. B. Post-Exertionelle Malaise, Pacing oder Brain Fog.
Pathophysiologie (Krankheitsmechanismus)
In den letzten 30 Jahren ME/CFS-Forschung konnten viele pathophysiologische Auffälligkeiten bei ME/CFS entdeckt und repliziert werden, die seit Beginn der Pandemie nun auch bei Long COVID gezeigt wurden. Dazu zählen insbesondere Störungen im Gefäßsystem: So zeigt sich bei ME/CFS und Long COVID die Erweiterung der Gefäße als eingeschränkt (Endotheliale Dysfunktion), der Blutfluss in das Gehirn ist vermindert, die Verformbarkeit roter Blutkörperchen ist reduziert, Blutplättchen sind überaktiviert, und es finden sich kleinste Blutgerinnsel. Zudem finden sich klare Hinweise auf einen eingeschränkten Energiestoffwechsel: Die systemische Sauerstoffversorgung ist reduziert, bei Wiederholung eines kardiopulmonologischen Belastungstest sinkt die anaerobe Schwelle deutlich und der Laktatspiegel im Liquor ist auch in Ruhe bereits erhöht. Außerdem finden sich bei ME/CFS und Long COVID Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die an der Steuerung des autonomen Nervensystems beteiligt sind und damit wichtige Körperfunktionen kontrollieren.
Ausführlichere Erläuterungen zu wichtigen Befunden der Pathophysiologie von ME/CFS finden sich hier.
Abb. 6: Replizierte Befunde bei ME/CFS und Long COVID. Die Tabelle listet eine Auswahl von in der ME/CFS-Forschung bekannten Auffälligkeiten, die bei Long COVID reproduziert werden konnten. Im PDF-Format (hier öffnen) können die einzelnen Studien per Direktlink abgerufen werden.
Insbesondere in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie hatten viele Erkrankte keinen Zugang zu Tests, sodass ihnen bei einer Long-COVID-Erkrankung der Beleg einer SARS-CoV-2-Infektion fehlen kann. Zudem erhöht sich ab dem 3. Tag nach Symptombeginn die Falsch-Negativ-Rate der PCR-Tests (Kucirka et al., 2020), ebenso können Antikörpertests trotz durchgemachter Infektion negativ ausfallen. Alwan und Johnson (2021) schlagen daher verschiedene Möglichkeiten zur Diagnose einer zurückliegenden SARS-CoV-2-Infektion anhand klinischer Symptome vor, darunter Geruchs- oder Geschmacksverlust ohne andere identifizierbare Ursache ODER gängige klinische Symptome UND hohe COVID-19-Prävalenz am Ort zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns ODER mindestens ein häufiges klinisches Symptom UND Kontakt mit einem bestätigten COVID-19-Fall in der Zeit, als die Symptome anfingen.
Nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation wurde in die deutsche Fassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM) der Diagnoseschlüssel U09.9! für „Post-COVID-19-Zustand, nicht näher bezeichnet“ aufgenommen.
Für ME/CFS (ICD-10-GM G93.3) gibt es verschiedene Diagnosekriterien, von denen sich inzwischen drei in Forschung und Klinik etabliert haben: die Kanadischen und Internationalen Konsenskriterien (CCC und ICC) sowie die Kriterien des amerikanischen Insitute of Medicine (IOM). Den etablierten Kriterien ist gemeinsam, dass für das Stellen einer Diagnose von ME/CFS das Kardinalsymptom Post-Exertionelle Malaise, eine charakteristische belastungsinduzierte Symptomverschlechterung, vorliegen muss. ME/CFS kann zielgerichtet diagnostiziert werden (z. B. anhand der Kanadischen Konsenskriterien/CCC) und wird inzwischen nicht mehr als Ausschlussdiagnose angesehen. Zur Untersuchung von alternativen oder gleichzeitig auftretenden Differenzialdiagnosen bietet die U.S. ME/CFS Clinician Coalitian eine Übersicht.
Abb. 6: Die gängigsten Diagnosekriterien für ME/CFS: Kanadische Konsenskriterien, Internationale Konsenskriterien und die Systemic Exertion Intolerance Disease-Kriterien des ehemaligen Institute of Medicine (heute National Academy of Medicine). Adaptiert nach den Übersichten der OMF und der Physio-pedia.
Für Long COVID und für ME/CFS gibt es bisher keine zugelassenen Medikamente. Es kann lediglich versucht werden, einige Symptome bestmöglich zu lindern. Zur Behandlung von ME/CFS-spezifischen Symptomen hat die U.S. ME/CFS Clinician Coalition im Jahr 2021 Konsenus-Empfehlungen veröffentlicht.
In Ermangelung einer Therapie wird von vielen ME/CFS-Patient*innen Pacing als Strategie zum Krankheitsmanagement angewandt, um Zustandsverschlechterungen nach (Über-)Belastung zu vermeiden (hier gibt es ausführliche weiterführende Informationen zu Pacing). Schon kleinere Anstrengungen können zur Verschlechterung der Symptomatik führen, daher achten ME/CFS-Erkrankte durch Pacing darauf, in ihrem „Energiekorridor“ zu bleiben. Damit können Crashs aufgrund von PEM abgemildert, in ihrer Häufigkeit verringert oder gar ganz verhindert werden. Pacing wird international von Gesundheitsbehörden wie den Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem National Institute of Health Care and Excellence (NICE) empfohlen. Auch Patientenumfragen belegen, dass Pacing bei ME/CFS die wirksamste, sicherste und akzeptierteste Form des Aktivitätsmanagements ist.
Aktuell laufen weltweit mehrere klinische Studien, die Medikamente auf ihre Wirksamkeit bei Long COVID prüfen. Aufbauend auf den Beobachtungen zu funktionellen Autoantikörpern wird u. a. der Wirkstoffkandidat BC 007 des Biotechnologie-Unternehmens Berlin Cures beforscht. BC 007 ist ein Aptamer, das Autoantikörper, die sich gegen G-Protein gekoppelte Rezeptoren richten, neutralisieren kann (Becker et al., 2020). In einem ersten Heilungsversuch an einem Long-COVID-Patienten mit ME/CFS-Symptomen wurde BC 007 erfolgreich getestet (Hohberger et al., 2021), drei weitere Heilungsversuche hat das verantwortliche Forschungsteam der Augenklinik an der Uniklinik Erlangen rund um Dr. Bettina Hohberger folgen lassen und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Fördergelder für eine klinische placebokontrollierte Phase-2a-Studie (reCOVer-Projekt) erhalten (Pressemitteilung). Zudem wird BC 007 auch für ME/CFS im Rahmen des unCOVer-Projekts getestet, das über die bayerische Landesregierung und Spendengelder, die die Patient*inneninitiative #FundraisingBC007MECFS zusammen mit dem Verein Brückeverbindet e. V. gesammelt hat, finanziert wird. Über die Langzeitwirkung der BC007-Therapie liegen derzeit noch keine Daten vor.
An der Charité Berlin untersucht die von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen geleitete Nationale Klinische Studiengruppe (NKSG) verschiedene Arzneimittel und medizinische Verfahren sowohl für ME/CFS als auch Post COVID. Der Schwerpunkt liegt dabei auf bereits für andere Krankheiten zugelassenen Medikamenten, damit diese bei bestätigter Wirksamkeit schnell für ME/CFS und Post COVID zugelassen werden können und Ärzt*innen und Patient*innen zur Verfügung stehen. Die klinischen Studien der NKSG werden von einem umfangreichen Diagnostik- und Biomarkerprogramm begleitet, um relevante Biomarker für den Pathomechanismus von ME/CFS und Post COVID zu identifizieren. Mittels funktionellem MRT, EndoPAT, OCT-Angiographie und Arterial spin labelling (ASL) sollen zudem spezifische diagnostische Tests entwickelt werden. Das NKSG-Netzwerk wurde maßgeblich durch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland initiiert. Die NKSG wird durch das BMBF für die Jahre 2022 und 2023 in Höhe von insgesamt 10 Millionen Euro gefördert. Long COVID Deutschland und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS setzen sich für eine fortlaufende Förderung des Projektes über das Ende diesen Jahres hinaus ein.
Die große Bandbreite an Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion, die unter den Sammelbegriff Long COVID fällt, bringt einige Herausforderungen mit sich, da bei unterschiedlichen Long-COVID-Subgruppen möglicherweise verschiedene Pathomechanismen und Therapieansätze eine Rolle spielen (Yong und Liu, 2021). Die Subgruppen überlappen sich, sodass Long-COVID-Betroffene bspw. sowohl Vernarbungen in der Lunge (Lungenfibrose) als auch ME/CFS haben können. Hierbei ist es enorm wichtig, Patient*innen auf die Post-Exertionelle Malaise, das Leitsymptom von ME/CFS, zu screenen. Denn während es für die Lungenfibrose Hinweise gibt, dass eine pulmonale Rehabilitation die Lungenfunktion verbessern kann (z. B. Liu et al., 2020), verschlechtern bei ME/CFS-Patient*innen klassische Rehamaßnahmen den Zustand, da Betroffene in der Regel über ihre individuellen Belastungsgrenzen gehen und so die Post-Exertionelle Malaise (auch als „Crash“ bezeichnet) auslösen (Davenport et al., 2022). Jeder Crash geht mit der Gefahr einer nachhaltigen Symptomverschlechterung und Chronifizierung einher. Nach ausführlicher Sichtung der gesamten ME/CFS-Literatur rät das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in seiner aktuellen ME/CFS-Leitlinie von jedweder Therapie ab, die bei ME/CFS auf Aktivierung abzielt (weiterführende Informationen zur neuen NICE-Leitlinie).
Long COVID hat vor allem durch die Medien – beachtenswerterweise schon seit März 2020 – und die Arbeit von Patientenorganisationen und -initiativen Aufmerksamkeit erfahren, wohingegen die medizinische Fachwelt sich eher abwartend verhielt. Letzteres mag daran liegen, dass ME/CFS und postvirale Beschwerden insgesamt in der Medizin immer noch eine Unbekannte darstellen und aufgrund alter Dogmen häufig fälschlicherweise im Bereich der Psychosomatik verordnet werden – obwohl es sich bei ME/CFS um ein neuroimmunologisches Krankheitsbild handelt. Dass jetzt langsam ein Umdenken stattfindet, ist neben der engagierten Arbeit von vereinzelten Ärzt*innen und Forschergruppen auch den Anstrengungen von Betroffenen zu verdanken, die sich in Patienteninitiativen wie bspw. der Patient-Led Research Collaborative organisieren. In Deutschland engagiert sich die Patienteninitiative Long COVID Deutschland für eine öffentliche Wahrnehmung der Erkrankung sowie für Investitionen in Forschung und Versorgung.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland haben sich 2021 gemeinsam erfolgreich für eine Verankerung der Krankheitsbilder im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung eingesetzt und im Anschluss den Nationalen Aktionsplan (Nationaler Aktionsplan für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom) entwickelt, der darlegt, wie Medizin und Politik angemessene Versorgung und Forschung für ME/CFS und Long COVID erreichen können und wie mithilfe einer breitenwirksamen Aufklärungskampagne die Öffentlichkeit über die Krankheitsbilder informiert werden kann. Nach Vorlegen des Aktionsplans konnten umfassende Gespräche mit Bundestagsabgeordneten sowie Mitarbeitenden des BMG und BMBF die Förderung der Nationalen Klinischen Studiengruppe (NKSG) für 2022 und 2023 erreichen. Dies stellt einen wichtigen ersten Impuls für die Entwicklung und Erforschung von Therapieansätzen dar. Für eine erfolgreiche Durchführung der Forschungsprojekte der NKSG ist es von großer Bedeutung, dass es eine langfristige und verstetigte Folgefinanzierung über das Ende diesen Jahres hinaus gibt. Bezüglich der Versorgung und der Aufklärung der Öffentlichkeit aber auch des medizinischen Fachpersonals über ME/CFS als relevante Subgruppe von Long COVID herrscht weiterhin großer Nachholbedarf. Trotz der hohen Zahl an Betroffenen gibt es mit dem Charité Fatigue Centrum (CFC) deutschlandweit nur eine einzige Ambulanz für erwachsene ME/CFS-Erkrankte und mit dem MRI Chronische Fatigue Centrum (MCFC) nur eine einzige Ambulanz für Kinder und Jugendliche mit ME/CFS. Das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgeschriebene deutschlandweite Netzwerk an Kompetenzzentren sowohl für Long COVID als auch für ME/CFS bedarf zur erfolgreichen Umsetzung nach wie vor umfangreicher politischer Maßnahmen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland haben in einem Update des Nationalen Aktionsplans ausführliche Konzepte für Versorgung, Aufklärung und Grundlagenforschung veröffentlicht, die u. a. darlegen wie der Aufbau eines deutschlandweiten Netzwerkes an Kompetenzzentren bestmöglich gelingen kann. Zudem richtet sich ein Leitfaden für Vorhaben zur Erfoschung und Versorgung von ME/CFS und Post-COVID-Syndrom speziell an Landesregierungen sowie an das Gesundheitswesen und die medizinische Forschung in Deutschland (Link).
Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. ist eine S1-Leitlinie zu Post COVID/Long COVID entstanden, die jährlich geupdatet wird. Daran mitgewirkt haben u. a. auch Prof. Uta Behrends vom MCFC an der TU München sowie Prof. Carmen Scheibenbogen vom CFC an der Charité Berlin.
ME/CFS wurde in der Vergangenheit im Vergleich zu anderen neurologischen und immunologischen Erkrankungen in der Beforschung so sehr vernachlässigt, dass es bspw. für die in Häufigkeit und Krankheitsschwere am ehesten vergleichbare Multiple Sklerose zehnmal mehr Forschungspublikationen gibt. Nichtsdestotrotz sind Infektionserkrankungen als Auslöser für ME/CFS seit vielen Jahren in zahlreichen Studien dokumentiert und belegt (Islam et al., 2020). Das neue Interesse für ME/CFS durch Long COVID könnte einen Paradigmenwechsel weg von Ignoranz und Psychosomatisierung hin zu intensiver biomedizinischer Erforschung der Erkrankung bewirken. Für den Erfolg eines solchen Paradigmenwechsels ist es auch wichtig, dass Medizin und Gesellschaft die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten. Ein fataler Mechanismus zur Marginalisierung der Erkrankung war in der Vergangenheit, Betroffenen die Expertise über ihre eigene tagtäglich durchlebte Krankheit abzusprechen (epistemische Ungerechtigkeit) und Einschätzungen sowie Symptombeschreibungen von Patient*innen bspw. als hysterisch oder als „dysfunktionale Krankheitsüberzeugungen“ abzutun. Daraus resultierend erhalten bis heute viele ME/CFS-Betroffene keine korrekte Diagnose, Schätzungen zufolge sind nur ca. 10 % der Erkrankten mit ME/CFS diagnostiziert (Solomon et al., 2004; Jason et al., 2020). Damit Forschung und Versorgung von ME/CFS und Long COVID gelingen, sollte die Expertise der Expert*innen und der Long-COVID- und ME/CFS-Erkrankten einbezogen werden, etwa beim Design von Studien oder beim Aufbau von Versorgungsambulanzen. Sofern möglich, kann dies beispielsweise konkret bedeuten, Patient*innen bei wissenschaftlichen Publikationen eine Ko-Autorenschaft anzubieten.
Anlaufstellen für Betroffene
- Die Patienteninitiative Long COVID Deutschland führt auf ihrer Homepage eine Liste mit Post-COVID-Ambulanzen innerhalb Deutschlands.
- Zu Selbsthilfegruppen für Long COVID und COVID bietet NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) eine Übersicht.
- Auf Facebook befinden sich zu Long COVID einige Selbsthilfegruppen: Leben mit Covid-19; Long COVID Deutschland (beides geschlossene Gruppen), die Long COVID Gruppe (öffentliche Gruppe) und weitere.
Ressourcen für Ärzt*innen
- Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. stellt eine Fortbildung zu Long COVID und ME/CFS bei Erwachsenen und Kindern zur Verfügung. Die Videofortbildung ist bei der Ärztekammer Hamburg und der Österreichischen Akademie der Ärzte mit 3 Punkten akkreditiert und zusammen mit weiteren Fachinformationen im Ärzteportal abrufbar.
- Ein ebenfalls CME-zertifizierter Artikel zu ME/CFS findet sich in „Der niedergelassene Arzt“.
- Das European ME Network (EUROMENE) hat eine Konsensleitlinie zur Diagnostik und Versorgung bei ME/CFS verfasst.
- Die U.S. ME/CFS Clinician Coalition stellt auf ihrer Webseite umfangreiche Ressourcen zur Diagnostik und dem Management von ME/CFS zur Verfügung.
- Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hat unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. (DGP) die S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID und eine dazugehörige Patientenleitlinie verfasst.
- Ein Konsensuspapier des DGKJ-Konvents behandelt die Einheitliche Basisversorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long COVID.
- Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) informieren über ME/CFS und Post-COVID Sequelae.
Wissenschaftliche Vorträge
- Long-COVID – Was ist das? | Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen; Link
- Long-COVID und Chronic Fatigue Syndrome (CFS) – Abgrenzungen und Überschneidungen | Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen; Link
- Was ist der Unterschied zwischen Long/Post-COVID und ME/CFS? Wie wird die Diagnose gestellt? | Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen; Link
- Das Auge als Fenster zu Long COVID | Prof. Dr. Christian Y. Mardin; Link