Unser Science-Update
Für dieses Science-Update haben wir einen Überblicksartikel über die Forschung zu ME/CFS im Jahr 2018 übersetzt. Der englischsprachige Originalartikel von Dr. Rochelle Joslyn (Immunologin an der University of Washington) wurde im Dezember hier bei #MEAction veröffentlicht.
Außerdem sind wir der Frage nachgegangen, wie die Anzahl der Studien des letzten Jahrs einzuordnen ist – unser Nachtrag findet sich unter der Übersetzung des Artikels.
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Zusammenfassung der Forschung zu ME/CFS 2018
2018 war ein entscheidendes Jahr für die Forschung zu ME/CFS und es wurden über 200 Forschungsarbeiten zu verschiedenen Aspekten von ME/CFS veröffentlicht. Von prominenten Wissenschaftler*innen der Biomedizin wurde weltweit unter Einsatz wirkungsvoller neuer Technologien und Analysestrategien Grundlagenarbeit geleistet, um das Verständnis des Krankheitsbildes, der Pathophysiologie und wirksamer Behandlungsweisen zu erweitern. Von komplexen bildgebenden Verfahren bis hin zur Bestimmung der Dysfunktion von Immunzellen – die 2018 durchgeführten Forschungsarbeiten ordnen ME/CFS klar in den Bereich der Neuroimmunerkrankungen ein.
Die Arbeiten des letzten Jahres umfassen eine Vielzahl an Bereichen und beleuchten die physiologischen und biochemischen Aspekte der Krankheit und beschreiben einzigartige Elemente von ME/CFS wie z. B. Post-Exertional Malaise und soziale Stigmatisierung. Besonders erschienen in diesem Jahr klinische Studien zu biochemischen Wirkstoffen und immunmodulierenden Verfahren sowie bedeutende Reanalysen früherer Studien, die auf dem psychosomatischen Ansatz basierende Therapieansätze widerlegen. Durch umfassendes molekulares Profiling zur Identifizierung von Biomarkern und neuen Therapieansätzen kommt man objektiven Diagnosen und neuen klinischen Studien immer näher.
Dieser Artikel fasst die Highlights aus den Schlüsselbereichen der Forschung zu ME/CFS zusammen und beschreibt viele der wichtigsten Forschungsartikel, die im letzten Jahr zu ME/CFS veröffentlicht wurden. Eine interaktive grafische Version des Artikels ist bei SMCI verfügbar.
Neurologie
2018 war ein bedeutendes Jahr für Neuroimaging (bildgebende Verfahren), in einer Vielzahl von Studien wurden moderne Technologien und komplexe Analyseverfahren angewendet, um entzündliche, strukturelle und funktionelle neurologische Auffälligkeiten zu untersuchen. Da es keine Hirn-Biobank von Patient*innen gibt, haben sich die Forschenden auf das Ausmaß konzentriert, in dem ungewöhnliche Aktivität durch non-invasive Methoden festgestellt werden kann, und haben wichtige Ergebnisse erzielt, die neurologische Funktionsstörungen bei der Pathophysiologie von ME/CFS andeuten. In der Zusammenschau zeigen die Forschungsarbeiten deutlich veränderte neurologische Strukturen und Funktionen in den Gehirnen von ME/CFS-Patient*innen, was mithilfe objektiver Maße für eine physiologische Basis der von Patient*innen berichteten kognitiven Einschränkungen und autonomen Funktionsstörungen spricht.
Zinn et al. konnten Unterschiede in der neurologischen Aktivität im Elektroenzephalogramm (EEG), einer Methode zur Aufzeichnung der elektrischen Hirnaktivität, feststellen.
Nakatomi et al. beobachteten ausgedehnte Neuroinflammation in Zusammenhang mit der Schwere der Symptome im Positronen-Emissions-Tomographen (PET).
Boissoneault et al. und Shan et al. maßen verringerte funktionale Konnektivität (Interaktionsmuster zwischen verschiedenen Hirnarealen) durch funktionales MRT (fMRT).
Barnden et al. entdeckten Defizite in der neuralen Leitfähigkeit im Hirnstamm von CFS (Fukuda)-Patient*innen und schlugen vor, dass eine kompensatorische Erhöhung des Myelins (die „Isolation“ um Neurone herum) auftreten und die Hirnfunktion einschränken könnte.
Staud et al. werteten Unterschiede in den Mustern des zerebralen Blutflusses nach einer kognitiven Anstrengungsaufgabe zwischen ME/CFS-Patient*innen und gesunden Kontrollen aus.
Boissoneault et al. stellten einen umgekehrten Zusammenhang zwischen zerebralem Blutfluss und Herzratenvariabilität (Unterschiede in Anzahl und Abständen zwischen Herzschlägen) mit Fatigue fest.
Sevel et al. untersuchten die Leistungsfähigkeit einer Plattform zu maschinellem Lernen bei der Feststellung neurologischer struktureller Auffälligkeiten bei ME/CFS.
Kimura et al. maßen im MRT mikrostrukturelle Auffälligkeiten im Gehirn von Patient*innen und stellten eine bedeutsame Verringerung in physischen neurologischen Maßen in bestimmten Hirnregionen im Vergleich zu gesunden Kontrollen fest.
Rowe et al. identifizierten einige ME/CFS-Patient*innen, bei denen eine zervikale Spinalstenose (Verengung der Halswirbelsäule) zu ihren Symptomen beitrug, welche sich nach einer korrigierenden Operation verbesserten. Diese Fallstudie hebt die Bedeutung sorgfältiger neurologischer Untersuchung von Patient*innen mit dieser Erkrankung hervor.
Bezugnehmend auf Naviaux’ Hypothese, dass bei ME/CFS Prozesse ablaufen, die auch bei Autismus zu finden sind, und die beiden Erkrankungen das gemeinsame Symptom der zentralen Schmerzempfindlichkeit (chronische Schmerzen durch Veränderungen des Zentralnervensystems) haben, untersuchten Bileviciute-Ljungar et al. Merkmale von Autismus in einer CFS-Kohorte, konnten jedoch keine erhöhte Rate von Autismus finden.
Nilsson et al. untersuchten in einer klinischen Studie einen Agonisten von Dopamin- und Serotonin-Rezeptioren (−)-OSU6162 und fanden eine korrelative, jedoch nicht signifikante Verringerung der Fatigue im Selbstbericht, besonders bei Patient*innen, die Antidepressiva nahmen.
Immunologie und Mikrobiom
Immunologischen Untersuchungen waren der aktivste Forschungsbereich zu ME/CFS des Jahres. Die Studien waren breit aufgestellt, von grundlegendem Profiling und der Suche nach Biomarkern bis hin zu gezielten Folge-Evaluationen spezifischer Mechanismen und klinischen Studien. Besonders gab es vielfache Bemühungen zur Unterscheidung von Subgruppen von Patient*innen mit unterschiedlichen Symptomen mithilfe objektiver Maße. Basierend auf den letztjährigen bahnbrechenden Forschungsarbeiten zu Autoimmunität und ME/CFS konzentrierten sich mehrere Studien auf den Nachweis von Autoantikörpern und ihre therapeutische Entfernung. Eine detaillierte Bestimmung der Verteilung und der funktionalen Eigenschaften verschiedener Immunzellenarten (T-, B-, NK-Zellen und rote Blutkörperchen) zeigte eine Reihe von Auffälligkeiten im Blut bei ME/CFS, z. B. eine erhöhte Anfälligkeit für Zelltod, abweichende Häufigkeiten von bestimmten Zellpopulationen, und ein verringertes Vorkommen von wichtigen Proteinen für die Zellfunktion. Die Suche nach Unterschieden in den löslichen Faktoren im Blut zeigte ebenfalls Hinweise auf Immunaktivierung.
High-throughput mapping der Signaturen von Epigenetik, RNA, Exosomen und Mikrobiom trug zum grundlegenden Profiling des Krankheitsbilds von ME/CFS zur Identifikation potentieller Biomarker bei. Die Auswirkungen immunmodulierender Ereignisse wie z. B. Virusinfektionen und Impfungen als Auslöser von ME/CFS wurden ebenfalls untersucht.
Scheibenbogen et al. führten eine kleine klinische Studie mit Patient*innen durch, deren Autoantikörper gegen ß2-adrenerge Rezeptoren nach einer Infektion erhöht waren, und wendeten eine Immunoadsorption genannte Technik an, in welcher lgG-Antikörper im Blut verringert werden. Die Autor*innen stellten reduzierte B-Gedächtniszellen, Plasmazellen und Autoantikörper fest. Sieben von zehn Patient*innen zeigten eine kurzfristige Verbesserung der Symptomatik, drei von zehn sogar eine langfristige Verbesserung nach der Behandlung.
Günther et al. wendeten ein unverzerrtes Verfahren an, um die Spezifität der Antikörper bei ME/CFS-Patient*innen zu untersuchen, und identifizierten eine einzigartige Signatur zur Unterscheidung der Patient*innen von gesunden Kontrollen.
Rekeland et al. führten eine retrospektive Analyse des Serums von Patient*innen durch, die an einer Rituximab-Studie teilgenommen hatten, und maßen die Höhe des Wirkstoffes und der Anti-Drug Antikörper (Antikörper, die die Aktivität des Wirkstoffs blockieren) bei Patient*innen, bei denen die Behandlung gewirkt hatte und Patient*innen, bei denen sie nicht gewirkt hatte. So sollte festgestellt werden, ob diese Faktoren die Ergebnisse beeinflusst hatten. Die Konzentration von Rituximab im Blut der Patient*innen unterschied sich nicht zwischen Therapie-Respondern und Nicht-Respondern, und es wurden keine Anti-Drug-Antikörper gefunden. Zudem zeigten die Patient*innen eine reduzierte Anzahl von B-Zellen, was für die Wirksamkeit des Wirkstoffes spricht.
Eine Reanalyse von Beobachtungen aus dem Jahr 1987 mithilfe moderner Methoden von Saha et al. zeigte, dass Erythrozyten (rote Blutzellen, die für den Stofftransport von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid im Gewebe zuständig sind) bei ME/CFS-Patient*innen weniger flexibel waren und weniger intakt blieben, wenn sie enge Gefäße durchliefen. Dieses Phänomen der verringerten Verformbarkeit wird auch bei Sepsis und Gefäßerkrankungen wie Diabetes beobachtet. Während die allgemeine Sauerstoffsättigung und das Hämoglobin bei Patient*innen normal war, legt die Studie nahe, dass die Erythrozyten anfällig für Schäden sind, wenn sie durch enge Kapillargefäße in peripherem Gewebe fließen.
Eaton et al. lieferten Evidenz für den inhibitorischen Effekt von Rituximab auf natürliche Killerzellen (NK-Zellen) unter hoher Dosierung in vitro, wiesen jedoch darauf hin, dass bei der Gabe Vorsicht geboten ist, besonders für Patient*innen, die bereits unter Funktionsstörungen der NK-Zellen leiden.
Rivas et al. wiesen eine verringerte Häufigkeit von regulatorischen T-Zellen (die Autoimmunität unterbinden), weniger Herpes-assoziierte proliferative Rezeptoren NKG2C auf NK-Zellen und eine höhere Häufigkeit von einer Unterart von NK-Zellen, die Zytokine produzieren, nach. Wir haben diese Studie im Science-Update 11/2018 besprochen.
Cabanas et al. beobachteten eine reduzierte Funktion von TRPM3-Ionenkanälen bei NK-Zellen bei ME/CFS-Patient*innen und stellten eine funktionelle Einschränkung dieser Zellen fest. Prof. Dr. Don Staines berichtete hierzu auf der Invest in ME Research-Konferenz. Unsere Zusammenfassung der Konferenz finden Sie hier.
Basierend auf ihren früheren Arbeiten zu einer erhöhten Expression von CD24, einem Signalprotein auf B-Zellen, in den B-Zellen von ME/CFS-Patient*innen zeigten Mensah et al., dass CD24-exprimierende B-Zellen bei ME/CFS-Patient*innen häufiger vorkamen als bei gesunden Kontrollen und bei einer Immunreaktion schneller abstarben. Die Studie haben wir im Science-Update 12/2018 besprochen.
De Meirleir et al. analysierten Labortests von ME-Patient*innen und identifizierten den Serumgehalt der Immunmarker CD14, PGE2 und IL-8 als Faktoren zur Unterscheidung von Patient*innen und gesunden Kontrollen.
Uhde et al. untersuchten das Blut einer großen stringenten Kohorte auf C-reaktives Protein, einem Entzündungsmarker, fanden jedoch keine signifikanten Unterschiede im Vergleich mit gesunden Kontrollen, im Gegensatz zu den erhöhten Werten bei Borreliose.
Nguyen et al. identifizierten zwei Subgruppen von ME/CFS-Patient*innen durch unterschiedliche Norepinephrin-Levels und stellten fest, dass diejenigen mit niedrigeren Levels stärkere Fatigue empfanden und höhere Levels der Immungene C-reaktives Protein und TGF-ß hatten, wohingegen diejenigen mit höheren Levels von Norepinephrin Modulation in autonomen Gensets zeigten.
Roerink et al. versuchten, Befunde zu erhöhtem TGF-ß im Blut von Patient*innen zu replizieren, fanden jedoch, dass Unterschiede in der technischen Verarbeitung der Proben die Messung beeinflusste, was möglicherweise unterschiedliche Ergebnisse in früheren Zytokin-Studien erklären könnte.
Castro-Marrero et al. stellten wiederholt niedrige Omega-3-Fettsäuren bei ME/CFS-Patient*innen fest, was auf einen entzündungsfördernden Zustand und ein erhöhtes Risiko für Gefäßerkrankungen hinweisen könnte.
de Vega et al. konnten verschiedene Subtypen von ME/CFS-Patient*innen anhand der Methylationsmuster (ein Maß für Genaktivierung) in ihren Immunzellen unterscheiden und diese Profile mit spezifischen Symptomen in Verbindung bringen.
Trivedi et al. führten eine epigenetische Studie durch, die bei ME/CFS-Patient*innen DNA-Methylationsmuster feststellte, die die Expression von Genen widerspiegeln, die an der Aktivierung des Immunsystems beteiligt sind.
Yang et al. stellten fest, dass die Expression von drei nichtcodierenden RNAs, die auch bei normaler Immunaktivierung involviert sind, im Blut von Patient*innen erhöht waren, und dass zwei mit der Schwere der Erkrankung zusammenhingen.
Castro-Marrero et al. untersuchten in einer kleinen ME/CFS-Kohorte, ob extrazelluläre Vesikel (kleine Partikel von Zellinhalten, die im Blut zirkulieren) als Biomarker dienen können, und zeigten, dass sie zahlreicher, aber kleiner waren als bei gesunden Kontrollen.
Mandarano et al. zeigten eine leicht reduzierte Vielfalt der Darmflora und leicht erhöhte Pilzarten im Darm bei einer kleinen ME/CFS-Kohorte.
Wang et al. identifizierten Unterschiede in der Mundflora von CFS-Patient*innen und gesunden Kontrollen.
Rajeevan et al. berichteten Ergebnisse einer großen Beobachtungsstudie des CDC, die ergab, dass Zellen im Blut von ME/CFS-Patient*innen – besonders bei Frauen über 45 – signifikant kürzere Telomere (Bereiche der DNA an den Enden von Chromosomen) hatten, was mit vorzeitiger Alterung in Verbindung steht.
In einer prospektiven Studie mit Jugendlichen nach einer akuten EBV-Infektion zeigten Pedersen et al., dass Fatigue sechs Monate nach der Infektion mit sensorischer Sensitivität, Schmerzen und einer verringerten Schrittanzahl pro Tag in Verbindung stand.
In einer umfangreichen retrospektiven Analyse der Folgen einer HPV-Impfung bei jugendlichen Mädchen fanden Schurink-Van’t Klooster et al. keine signifikante Zunahme von anhaltender Fatigue oder CFS nach der Impfung.
Post-Exertional Malaise
Diesjährige Forschungsarbeiten rückten PEM als ein klares Erkennungsmerkmal von ME/CFS in den Fokus. Eine umfangreiche Charakterisierung von PEM aus Patientenberichten führte zur Entwicklung eines neuen Messinstruments, welches eine wichtige Ressource zur Auswahl von Forschungskohorten und von Patient*innen berichteten Resultaten in zukünftigen klinischen Studien darstellt. Versuche der Messung von Unterschieden in objektiven biologischen Faktoren nach Anstrengung ergaben Evidenz für eine Immunaktivierung, die mit von Patient*innen berichteter PEM korrespondierte.
Moneghetti et al. identifizierten erhöhte Levels von mehreren inflammatorischen Zytokinen, anhand derer Patient*innen von gematchten sitzenden Kontrollpersonen 18 Stunden nach einer Anstrengungsaufgabe unterschieden werden. Dies deutet auf Entzündungsprozesse hin, die unabhängig von Dekonditionierung sind.
Polli et al. zeigten Zusammenhänge zwischen einem Indikator für die Aktivierung des Immunsystems und Schmerzen nach einem Anstrengungstest im Selbstbericht bei Patient*innen, aber nicht bei gesunden Kontrollen.
Chu et al. führten eine quantitative Analyse der Symptombeschreibungen nach Anstrengung von Patient*innen durch, mit dem Ziel das Erleben von PEM weiter zu definieren.
Jason et al. führten eine Patientenbefragung zum Erleben von PEM durch und entwickelten einen neuen Fragebogen zur Erfassung der Breite, Schwere und den Auslösern von Symptomen. Sie zeigten, dass ein Zusammenhang bestand vom Zeitpunkt des Eintretens von PEM nach Belastung, der Art des Auslösers, und der Anzahl und Dauer von Symptomen mit dem allgemeinen körperlichen Funktionszustand. Stärker eingeschränkte Patient*innen erlebten auch schwerere PEM. Ausführlich haben wir dies im Science-Update 11/2018 besprochen.
Eine Meta-Analyse von Brown et al. zeigte, dass PEM spezifisch ist für ME/CFS-Patient*innen im Vergleich zu gesunden Kontrollen, und somit ein charakteristisches Merkmal der Erkrankung darstellt. Wir haben die Analyse im Science-Update 08/2018 besprochen.
Stoffwechsel
Neuere Forschung zeigt übereinstimmend Störungen in verschiedenen Stoffwechselwegen bei Personen mit ME/CFS, was auf einen hypometabolischen Zustand hindeutet. Neuere Ergebnisse zeigen Unregelmäßigkeiten beim Stoffwechsel von Fetten und Aminosäuren, zusätzlich zu Beeinträchtigungen der Energie, oxidativem Stress, und dem Stoffwechsel von Nukleotiden, Stickstoff und Hormonen. Forschende haben außerdem die Hypothese untersucht, dass Stoffwechselstörungen bei Immunzellen die Probleme mit dem Immunsystem bei ME/CFS-Patient*innen verursachen könnten.
Eine bald erscheinende Datenanalyse von vier Stoffwechselstudien (ein Datensatz aus einer Partnerschaft mit SMCI, Armstrong et al. (2015), Naviaux et al. (2016), Germainet et al. (2017)) ergab Unterschiede zwischen den Metabolitenspiegeln von Patient*innen und gesunden Kontrollen, die zwischen den Studien äußerst konsistent waren. Darüber hinaus konnten die Forschenden keine Subgruppen von Patient*innen anhand der Metabolitendaten bilden. Das Fehlen von Subgruppen basierend auf Metabolitenspiegeln trotz der möglichen Existenz von Subgruppen in Bezug auf andere Aspekte der Erkrankung legt nahe, dass es fundamentale Unterschiede im Stoffwechsel aller von ME/CFS betroffenen Personen geben könnte.
Mithilfe von in vitro Muskelzellkulturen zur weiteren Untersuchung von Stoffwechselstörungen bei ME/CFS stellen Brown et al. fest, dass die ATP-Werte nicht durch eine Behandlung mit Metformin zur Erhöhung der Glukoseaufnahme beeinflusst wurden. Jedoch zeigten sie, dass die allgemeinen ATP-Werte bei Patient*innen niedriger waren als bei gesunden Kontrollen.
Nagy-Szakal et al. verglichen Metabolite im Blut mit Mikrobiomprofilen im Stuhl und klinischen IBD-Symptomen (chronisch-entzündliche Darmerkrankungen), um Stoffwechselprofile zu identifizieren, die Patient*innen von gesunden Kontrollen und Patient*innen mit und ohne IBD unterscheiden können.
Vegetatives Nervensystem, Kreislauf und Hormone
Eine Vielzahl von Studien zur Körperhaltung untersuchten orthostatische Intoleranz und vaskuläre Hypotonie bei ME/CFS und zeigten Unterschiede, die ME/CFS-Patient*innen von solchen mit anderen chronischen Erkrankungen mit orthostatischen Störungen unterscheiden können. Schlafstudien ergaben Hinweise auf vegetative Funktionsstörungen, und Hormonstudien ergaben verringerte Schilddrüsenwerte und Kortisolsensitivität.
Rasouli et al. stellten fest, dass CFS-Patient*innen genau wie Fibromyalgie-Patient*innen Schwierigkeiten dabei hatten, eine stehende Position beizubehalten.
Serrador et al. fanden, dass das Gleichgewicht im Vergleich zu Kontrollen gestört war, was mit dem funktionellen, aber nicht dem mentalen Status von CFS-Patient*innen zusammenhing. Diejenigen mit komorbider Fibromyalgie zeigten noch stärker eingeschränktes Gleichgewicht.
Miwa et al. beobachteten eine deutlich eingeschränkte Leistung bei einem 10-minütigen Test zur Toleranz im Sitzen und Stehen bei ME-Patient*innen, dies weist besonders darauf hin, dass fehlendes Gleichgewicht einen stärkeren Einfluss auf orthostatische Intoleranz hat als POTS.
Im Gegensatz zu früheren kardiovaskulären Studien stellen Bozzini et al. eine signifikant erhöhte Rate von Hypotonie bei CFS-Patient*innen fest.
Richardson et al. zeigten, dass ein Test der Zeit im Stehen mit Gewichten die Schwere von ME/CFS feststellen kann.
van Campen et al. untersuchten Daten der ersten 10 Minuten eine 20-minütigen Kipptisch-Untersuchung, um festzustellen, ob ein kürzerer Test POTS bei ME/CFS-Patient*innen richtig diagnostizieren kann. Sie fanden jedoch, dass ein verkürzter Test (weniger als 10 Minuten) nicht ausreichte.
Roma et al. fanden heraus, dass 10 Minuten im Stehen notwendig sind, um POTS präzise zu diagnostizieren, und dass eine zusätzliche Herzratenmessung über zwei Minuten im Stehen die Erkrankung besonders gut diagnostizieren kann.
Cambras et al. maßen reduzierte Aktivität und nächtliche Hauttemperatur bei ME/CFS-Patient*innen, fanden jedoch keine signifikanten Unterschiede im zirkadianen Rhythmus.
Orjatsalo et al. stellten mittels EKG höheren Blutdruck und Sympathikusaktivität während des Schlafs und weniger Parasympathikusaktivität während des Tiefschlafs als bei gesunden Kontrollen fest.
Castro-Marrero et al. zeigten in einer großen Kohortenstudie, dass Schmerzen, vegetative Funktionsstörungen und eine niedrige Lebensqualität mit schlechter Schlafqualität zusammenhingen.
Ruiz-Núñez et al. beobachteten konsistent niedrige Aktivität des T3-Schilddrüsenhormons in einer großen CFS-Kohorte.
Lynn et al. zeigten, dass Blutzellen von ME/CFS-Patient*innen weniger inflammatorische Zytokine produzierten und weniger sensitiv auf Signale der Glokokortikoid-Rezeptoren von Steroidhormonen waren im Vergleich zu sitzenden Kontrollen und Patient*innen mit dem Sjögren-Syndrom.
Funktionsstatus und Lebensqualität
Einige Studien mit Erwachsenen und Jugendlichen zeigten in quantitativen Untersuchungen ein bedeutendes Ausmaß an Einschränkungen, niedriger Lebensqualität und dem Einfluss von sozialer Stigmatisierung durch ME/CFS im Vergleich zu anderen schweren Erkrankungen. Neue Messinstrumente wurden getestet, um reduzierte Aktivitätslevels, das Erleben von Stigmatisierung und die Assoziation verschiedener Symptome mit funktionellen Einschränkungen zu untersuchen.
Kingdon et al. fanden, dass ME/CFS-Patient*innen stärker eingeschränkt waren als Patient*innen mit Multipler Sklerose.
Knight et al. fanden, dass Jugendliche mit CFS niedrigere Lebensqualität, akademische Leistungen und häufigere Fehlzeiten in der Schule zeigten als gesunde Gleichaltrige. Wir haben die Studie im Science-Update 12/2018 besprochen.
Gleason et al. untersuchten den Wirkungsgrad verschiedener Aktivitätsskalen bei der Feststellung von Schwellenwerten reduzierter Aktivität, die Patient*innen von Kontrollen unterscheiden können.
Strand et al. zeigten einen Zusammenhang von Schmerzen, reduzierter körperlicher Funktionsfähigkeit und Lebensqualität in einer Kohorte von klinisch gut charakterisierten Patient*innen.
McManimen et al. zeigten einen Zusammenhang von Suizidgedanken und Depression mit nicht-unterstützenden sozialen Interaktionen, dies weist darauf hin, dass die Stigmatisierung der Erkrankung zu schlechter psychischer Gesundheit bei einigen ME/CFS-Patient*innen beitragen kann.
Terman et al. entwickelten eine Skala zur Messung sozialer Stigmatisierung von ME/CFS-Patient*innen und zeigten, dass sie ein hohes Maß an Stigmatisierung einschließlich der Zurückführung der Krankheit auf psychologische Ursachen erlebten, was zu sozialem Rückzug führte. Im Science-Update 11/2018 haben wir die Studie besprochen.
CBT & GET
In 2018 wurde mit der Literatur abgerechnet, die die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) und Graded Exercise-Therapie (GET) zur Behandlung von ME/CFS propagierte. Eine Reanalyse verschiedener CBT- und GET-Studien identifizierte schwerwiegende Fehler beim Vorgehen der Autor*innen, den ausgewählten Ergebnismaßen und nicht berichteten Mängeln, dies untergräbt die Aussagen zur Wirksamkeit der Behandlung. Die Studien zur Reanalyse und die vielen zusammen mit ihnen erschienenen Kommentare sind ein bedeutender Schritt zu einer ausgeglicheneren Forschungslage, besonders in Bezug auf potentiell schädliche Therapien und der Widerlegung des psychosomatischen Narrativs, welches die Forschungsliteratur zu ME/CFS über Jahrzehnte hinweg dominiert hat. Ihre Publikation hat zudem eine anhaltende Begutachtung und Modifikation der klinischen Empfehlungen von mehreren einschlägigen klinischen Bildungsinstitutionen initiiert.
Sunnquist et al. stellten fest, dass Patient*innen, die strengere Falldefinitionen erfüllten, einen schwächeren Zusammenhang von Aktivität und Einschränkung zeigten. Dies passt nicht zu den Annahmen des kognitiv-behavioralen Modells, dass die Krankheitsüberzeugungen der Patient*innen und Dekonditionierung zu dem Erleben von Fatigue führen.
In einer Reanalyse der Originaldaten der PACE-Studie zeigten Wilshire et al., dass CBT und GET-Therapien nur mittlere Effekte im Selbstbericht ergaben, die weniger als zwei Jahre anhielten, und niedrige Besserungsraten, im Gegensatz dazu, was ursprünglich von den Autor*innen der PACE-Studie berichtet wurde. Wir haben über die Reanalyse im Science-Update 04/2018 berichtet.
Eine Reanalyse der FatiGo-Studie von Vink et al. zeigte, dass die Autor*innen der Studie objektive Aktivitätsmaße von den Ergebnissen ausgeschlossen haben, die ergeben hatten, dass CBT keine wirksame Therapie darstellt. Im Science-Update 09/2018 haben wir über die Neuauswertung der Studie berichtet.
Die Pilotstudie von Broadbent et al. zu selbstgesteuerter Wassergymnastik mit 11 Patient*innen zeigte Verbesserungen in mehreren körperlichen Maßen und weniger Fatigue und Schmerzen ohne Symptomverschlechterung, was dafür spricht, dass eine niedrige Intensität von Aktivität, deren Tempo selbst gesteuert wird, zu körperlichen Verbesserungen führen könnte.
Nachtrag der DG
Wie in der Einführung dargelegt, sind im letzten Jahr etwa 200 Studien über ME/CFS erschienen. Wie ist dies rein zahlenmäßig einzuordnen? Wir haben einen Teil dieser Frage schon auf unserer Seite Daten & Fakten in unserer Grafik „ME/CFS – unterrepräsentierte Forschung“ beantwortet. Anhand der Grafik sieht man sehr gut, dass die Forschung zu ME/CFS seit Jahrzehnten vernachlässigt wird und nur langsam vonstattengeht. Während Wissenschaftler*innen andere Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose, die Rheumatoide Arthritis oder Lupus seit den 1990 Jahren verstärkt und intensiv erforschen, wurden im gleichen Zeitraum nur wenige wissenschaftliche Paper über ME/CFS veröffentlicht. Aktuell sind es laut den gängigen medizinischen Datenbanken wie Pubmed ca. 280–300 Veröffentlichen über ME/CFS pro Jahr. Zum Vergleich: zur Rheumatoiden Arthritis erscheinen jährlich ca. 4500 Arbeiten, über MS ca. 4200.
Besonders eindrücklich und ernüchternd ist, dass über ME/CFS nur sehr wenig klinisch geforscht wird, das bedeutet es gibt nur wenige Studien zu möglichen Therapien. Aktuell sind es ca. 10–20 pro Jahr, davon aber wiederum nur wenige mit Medikamenten. Bei den meisten interventionellen Studien geht es um besseres Krankheitsmanagement, alternative Therapien wie Akupunktur oder um Aktivierungstherapien, welche aber wissenschaftlich seit Jahren äußerst umstritten sind, da sie kaum Evidenz zeigen, auf einem psychischen Modell von ME/CFS basieren und ME/CFS-Betroffenen potentiell durch Überlastung schaden können.
Schaut man sich alle abgeschlossenen klinischen Studien auf clinictrials.gov an, findet man 43 Studien für die Jahre 1998–2018, davon die Hälfte mit Medikamenten (inklusive Nahrungsergänzungsmitteln). Also ca. eine abgeschlossene Medikamentenstudie pro Jahr. Aktuell sind auf clinicaltrials 7 klinische Studien als aktiv gelistet, werden also im Moment durchgeführt. Das ist für 17 Millionen Patient*innen weltweit extrem wenig. Zum Vergleich: aktuell laufen laut den Datenbanken über 300 klinische Studien für Multiple Sklerose. Davon viele länderübergreifend, an mehreren Universitäten mit teilweise tausenden Patient*innen.
Auch wenn immer noch viel zu wenige Universitäten weltweit an ME/CFS biomedizinisch forschen, gibt es viele Lichtblicke, so steigt die Zahl der Studien über ME/CFS seit 2010 wieder kontinuierlich an, es gründen sich weltweit neue kollaborative Forschungsnetzwerke (wie EUROMENE 2016 oder das NIH-Netzwerk 2018), es erscheinen immer mehr qualitativ hochwertige Studien (s. o.) und es kommt in den letzten Jahren vermehrt zu Medikamentenstudien (z. B. mit Rituximab, Immunglobulinen oder einer Apherese). Schon Anfang der 1990er Jahre gab es einen kleinen Aufbruch in der therapeutischen Forschung (damals vor allem mit Immunglobulinen), das Ziel der DG und anderer Patientenorganisationen ist, dass die ansteigende biomedizinischeForschung in den letzten Jahren nicht abbricht und kontinuierlich ausgebaut wird.
Redaktion: laf, cfr, jhe, dha