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ME/CFS ist eine häufige und verkannte Folge von COVID-19

ME/CFS ist eine häufige und verkannte Folge von COVID-19

Auf eine kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion bezüglich ME/CFS hat die Bundesregierung im Mai diesen Jahres geantwortet, der Anteil der ME/CFS-Symptome bei Long COVID sei „noch nicht ausreichend erforscht“. Inzwischen zeigen jedoch mehrere Studien ein konsistentes Bild: Wie auch nach anderen Viruserkrankungen tritt ME/CFS auch nach COVID-19 auf und macht einen bedeutenden Anteil der Long COVID-Erkrankten aus.

Bei einem schweren COVID-19-Akutverlauf mit Hospitalisierung entwickeln viele Erkrankte ME/CFS: González-Hermosillo et al. (2021) untersuchten 130 überlebende Patient*innen 6 Monate nach der Hospitalisierung und diagnostizierten je nach verwendeten Diagnosekriterien bei 13 – 19,2 % ME/CFS. Dieser hohe Anteil ist nicht überraschend: Für das nah verwandte SARS-CoV-1-Virus, das die SARS-Epidemie 2002/2003 verursachte, untersuchten Lam et al. (2009) 233 Patient*innen 3,5 Jahre nach ihrer Hospitalisierung und diagnostizierten anhand der Fukuda-Kriterien sogar bei 27,1 % ME/CFS.

Wie häufig ME/CFS nach einer SARS-CoV-2-Infektion insgesamt ist, ist noch unklar. Jedoch zeigen inzwischen sechs unterschiedliche Studien einen ähnlich hohen ME/CFS-Anteil bei Long-COVID-Erkrankten: Nach 6 Monaten Long COVID haben je nach Studie 37 – 49 % der Betroffenen ME/CFS (Kedor et al., 2022; Mancini et al., 2021; Haffke et al., 2022; Jason und Islam, 2022; Bonilla et al., 2022; Tokumasu et al., 2022). Nach aktuellem wissenschaftlichen Stand erfüllen also bei langfristig an Long COVID Erkrankten knapp die Hälfte die ME/CFS-Kriterien. Viele Long-COVID-Betroffene, die die ME/CFS-Kriterien nicht erfüllen, haben häufig ebenfalls typische ME/CFS-Symptome wie Fatigue, Brain Fog, Post-Exertional Malaise oder eine Orthostatische Intoleranz (siehe z. B. Kedor et al., 2022; hier von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS besprochen). Dabei gilt es zu bedenken, dass eine ME/CFS-Diagnose nach den meisten Kriterien erst nach 6 Monaten gestellt wird.

Für die Häufigkeit von Long COVID bei ungeimpften Infizierten verdichtet sich die Studienlage auf eine Prävalenz von 10 – 15 % (z. B. Ballering et al., 2022). Nach anderen Infektionserkrankungen sind ähnliche Häufigkeiten persistierender Symptome bereits bekannt (Choutka et al., 2022). Insbesondere das Pfeiffersche Drüsenfieber, verursacht durch das Epstein-Barr-Virus, ist als Auslöser von ME/CFS in mehreren epidemiologischen Studien gut untersucht. 6 Monate nach einem Pfeifferschen Drüsenfieber erfüllen etwa 8 – 14 % der Untersuchten die Diagnosekriterien für ME/CFS, nach 12 Monaten sind es immer noch 7 – 9 % (Hickie et al., 2006; Katz et al., 2009).

Für das Auftreten von Long COVID scheint eine doppelte COVID-19-Impfung das Long-COVID-Risiko um ca. 50 % zu reduzieren (Ayoubkhani et al., 2022; Emecen et al., 2022). Bei dreifacher Impfung könnte die Risikoreduktion möglicherweise stärker ausfallen: Die Daten des britischen Office for National Statistics kamen vor der COVID-19-Impfung auf eine Prävalenz von knapp 13 % zwölf Wochen nach der SARS-CoV-2-Infektion (Link). Bei dreifacher Impfung liegt die Long-COVID-Häufigkeit unabhängig von den Virusvarianten zwölf Wochen nach der Infektion bei 4 % (Link).

Nach dem britischen Office for National Statistics (ONS) litten im Juli 2022 1,1 Millionen Briten über ein halbes Jahr an Long-COVID-Symptomen (Link). Die konservativste Prozentzahl aus den obigen Studien zum Anteil der ME/CFS-Erkrankten unter Long-COVID-Betroffenen mit 6-monatiger Symptomatik liegt bei 37 %. Mit diesem Schätzwert kommt man auf 407.000 Personen, die zum jetzigen Zeitpunkt in Großbritannien durch die Corona-Pandemie neu an ME/CFS erkrankt sein könnten. Bei dieser Rechnung ist zu berücksichtigen, dass den Studien zum ME/CFS-Anteil bei LC wahrscheinlich ein Selektionsbias zugrunde liegt, da in der Regel die Teilnehmenden über Spezialambulanzen rekrutiert wurden, bei denen tendenziell schwerer Betroffene vorstellig werden dürften. Jason und Islam (2022) zeigen z. B., dass der ME/CFS-Anteil bei schwer erkrankten LC-Betroffenen deutlich höher ist als bei moderat Betroffenen (74 vs. 31 %). Eventuell ist die Anzahl an neu erkrankten ME/CFS-Betroffenen durch COVID-19 also etwas niedriger als die 407.000. Für Deutschland dürfte sich die Zahl in einem ähnlichen Rahmen wie in Großbritannien bewegen (weniger Infektionen, aber mehr Einwohner). ME/CFS-Expert*innen wie Prof. Anthony Komaroff und Dr. Lucinda Bateman rechnen aufgrund von COVID-19 in den USA beispielsweise mit einer Verdopplung der ME/CFS-Prävalenz (Komaroff und Bateman, 2021), Mirin et al. (2022) nehmen sogar mehr als eine Verdreifachung der ME/CFS-Fälle an.

Trotz der vorliegenden – unserer Meinung nach hinreichenden – Evidenz sowie der Einschätzungen von Expertinnen und Experten sieht die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion „keine hinreichenden Belege“ dafür, dass es aufgrund von COVID-19 100.000 neue erkrankte ME/CFS-Betroffene geben könnte.

Birgt die Diagnose von ME/CFS wirklich „erhebliche Probleme“?

In der Antwort der Bundesregierung wird zudem behauptet, die Diagnostik des Krankheitsbildes ME/CFS berge „erhebliche Probleme“ und „es gebe für die Diagnostik keine zuverlässigen Labortests oder andere objektivierende technische Untersuchungen”.

Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und internationaler ME/CFS-Expert*innen lässt sich ME/CFS ebenso gut diagnostizieren wie andere klinische Diagnosen auch. Ärzt*innen sind bei der Diagnostik vieler Krankheiten in der Lage klinische Diagnosen zu stellen, obwohl z. B. zuverlässige Labortests fehlen, oder eine Bildgebung nicht existiert. Viele Krankheiten fallen in diese Kategorie, etwa die Migräne, an deren Diagnose kein*e Ärzt*in scheitert, weil eine Blutuntersuchung nicht möglich ist. Ähnliches gilt für die verschiedenen Formen der Depression, für ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen und sogar für den Morbus Alzheimer, der im ambulanten Bereich und im Frühstadium ebenfalls in aller Regel aufgrund klinischer Kriterien diagnostiziert wird.

Tatsächlich ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass eine Diagnose nur durch Labortests oder apparative Diagnostik stattfinden kann. Wäre dies so, hätte die Medizin vor 1960 viele Krankheiten nicht diagnostizieren können. Leberwerte (die heute zum Standard eines Blutbildes gehören) sind erst seit den 1960er Jahren für die praktische Medizin verfügbar (Sherman, 1991). Die Messung von monoklonalen Banden bei Multipler Sklerose wird erst seit den 1980er Jahren systematisch erforscht. Das erste CT zur Diagnostik wurde 1973 aufgestellt. Das erste MRT 1983. Bis in die jüngste Zeit konnten sich Mediziner*innen also nicht (nur) auf Labor- und bildgebende Verfahren verlassen. Mittels Anamnese, Diagnosekriterien und Ausschluss war und ist eine Diagnose genauso gut möglich.

Für ME/CFS existieren etablierte und international konsentierte klinische Diagnosekriterien (Kanadische Konsenskriterien, Internationale Konsenskriterien und die Systemic Exertion Intolerance Disease-Kriterien), mit denen die Krankheit zuverlässig diagnostiziert werden kann. Die ersten beiden Kriterien basieren auf einem internationalen Expert*innenkonsens, die SEID-Kriterien auf einem systematischen Review der wissenschaftlichen Literatur. Charakteristisch für ME/CFS ist hier das Kardinalsymptom Post-Exertional Malaise (PEM), die belastungsinduzierte Symptomverschlechterung, die ME/CFS gut von anderen Erkrankungen unterscheidet (Cotler et al., 2018).

Gerade anhand der Kanadischen Konsenskriterien lässt sich auch zeigen, dass Biomarker und Labortests  nicht die einzige Möglichkeit sind, Diagnosekriterien zu validieren. So gibt es eine valide und reliable Operationalisierung der Kanadischen Konsenskriterien, den DePaul Symptom-Questionaire (DSQ) in seinen fünf Ausführungen (1, 2, Shortform, PEM, Pediatric), der vor 12 Jahren entwickelt und seitdem immer weiter verbessert wurde.

Validiert wurde hier mittels folgender statistischer Instrumente: Korrelieren die Symptome in hohem Maße miteinander? (Interne Konsistenz) Unterscheidet der Fragebogen gut von anderen Krankheiten und Konstrukten? (Spezifität/Diskriminanzvalidität) Misst der Fragebogen immer dasselbe? (Reliabilität) Prognostiziert der Fragebogen eine spätere Diagnose? (Prognostische Validität). All dies trifft beim DSQ bei ME/CFS zu.

„The DSQ has demonstrated very good psychometric properties in terms of test-retest reliability and sensitivity/specificity, as well as construct, predictive, and discriminant validity.“ (Jason und Sunnquist, 2018)

Weitere Biomarker und apparative Diagnostik sind in der Entwicklung. Diese Forschung profitiert dabei von der Tatsache, dass sich bei ME/CFS-Kranken spezifische pathophysiologische Befunde erheben lassen – zwar nicht mit den in der praktischen Medizin verfügbaren Methoden, aber eben mit in Forschungseinrichtungen verfügbaren Tests. So haben ME/CFS-Kranke in einem 2-day-Cardio-Pulmonary Exercise Testing (2-day-CPET) eine verringerte maximale Sauerstoffkapazität (VO2max) sowie eine abgesunkene anaerobe Schwelle. Ebenso haben sie eine auffällig verringerte und nach wiederholtem Testen absinkende Handkraft. Außerdem kann bei vielen ME/CFS-Kranken ein verminderter zerebraler Blutfluss (CBF) nachgewiesen werden. Bis diese Methoden in der Praxis verfügbar sind, müssen sie aber noch ausgiebig getestet werden (nicht anders als bei der MS-Diagnostik mittels MRT und monoklonalen Banden).

 

Fazit:

ME/CFS lässt sich ebenso gut mittels Anamnese, Diagnosekriterien und Differentialdiagnostik diagnostizieren wie andere klinische Diagnosen (Depressionen, Migräne) auch. Diagnosekriterien sind seit 20 Jahren für ME/CFS etabliert und auch validiert. Es bestehen keine erheblichen Probleme, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion behauptet. Dass durch die Pandemie weitaus mehr als 100.000 ME/CFS-Kranke hinzukommen werden, ist äußerst wahrscheinlich und von aktuellen Daten gedeckt. Konsistent erfüllen in Studien ca. die Hälfte der LC-Erkrankten die ME/CFS-Kriterien.

Weiterführende Links

Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion: Link
Antwort der Bundesregierung: Link

Redaktion: mth, dha, hrp