Hand beim Ausfüllen eines Fragebogens

Studie: Med. Versorgungssituation

Studie: Medizinische Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland

Titel der Studie: Medical Care Situation of People with Myalgic Encephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome in Germany

Autor*innen: Laura Froehlich (FernUniversität in Hagen), Daniel B. R. Hattesohl (Deutsche Gesellschaft für ME/CFS), Leonard A. Jason (DePaul University, USA), Carmen Scheibenbogen (Charité Berlin), Uta Behrends (Technische Universität München), Manuel Thoma (Deutsche Gesellschaft für ME/CFS)

Journal: Medicina / MDPI, veröffentlich am 23.06.2021

Thema: Die medizinische Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland und die Validierung der deutschen Übersetzung eines Kurzfragebogens zur Erfassung der ME/CFS-Symptomatik.

Methoden und Teilnehmende: Im Frühsommer 2020 haben 611 Teilnehmende einen 45-minütigen Online-Fragebogen ausgefüllt. Das Team hat die Studie über die 4 deutschen ME/CFS-Patientenorganisationen beworben, um eine möglichst hohe Anzahl an Teilnehmenden zu gewinnen. Aus dem Projekt sind zwei Publikationen entstanden.

Die erste Publikation fokussiert auf die medizinische Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland, erschienen in einer Sonderausgabe zum Thema „ME/CFS: Causes, Clinical Features and Diagnosis“ im Journal Medicina. Die zweite Publikation untersucht die empfundene Stigmatisierung von Menschen mit ME/CFS und befindet sich aktuell im Druck beim Journal of Health Psychology. Beide Publikationen erscheinen Open Access, d. h. frei zugänglich für alle Interessierten. Wir bedanken uns bei der Weidenhammer-Zöbele-Stiftung für die finanzielle Unterstützung des Forschungsprojekts.

Im Folgenden werden nun die Ergebnisse der ersten Publikation zur medizinischen Versorgungssituation zusammengefasst. Eine Zusammenfassung der zweiten Publikation erfolgt separat, sobald diese erschienen ist.

Das Forschungsteam nutzte für die Umfrage größtenteils validierte (d. h. in der Forschung bereits eingesetzte und geprüfte) Fragebögen. Abgefragt wurde u. a. der DePaul Symptom Questionnaire Short Form (DSQ-SF), der die ME/CFS-Symptomatik basierend auf den Kanadischen Konsenskriterien für ME/CFS (CCC) misst. Zusätzlich wurde der DePaul Symptom Questionnaire Post-Exertional Malaise (DSQ-PEM) zur spezifischen Messung der PEM-Symptomatik und der SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand erfasst. Darüber hinaus gaben die Teilnehmenden an, welche Angebote in Bezug auf ME/CFS sie in den letzten 6 Monaten genutzt haben, welche Hürden sie für den Zugang zur Versorgung sehen und wie zufrieden sie mit der Behandlung durch Allgemein- oder Fachärzt*innen sind.

Von den 611 Teilnehmenden wurden nur jene in die Analyse der Daten aufgenommen, die nach dem Algorithmus des DSQ-SF/SF-36 die CCC erfüllten. Zusätzlich wurden nur jene Teilnehmenden aufgenommen, die länger als 14 Stunden PEM nach Aktivität berichteten (Frage: „Wenn Sie sich nach Aktivität schlechter fühlen, wie lange dauert es an?“). In früherer Forschung hat sich gezeigt, dass das Kriterium von 14 Stunden oder länger PEM besonders gut zwischen ME/CFS und anderen Erkrankungen unterscheidet. 499 Teilnehmende erfüllten die CCC (sowie die ICC) und gaben eine Dauer der PEM von 14 Stunden oder länger an.

Was war das Ziel der Publikation?

In mehreren Studien aus den USA (Thanawala & Taylor, 2007; Sunnqist et al., 2017; Timbol & Baraniuk, 2019) zeigte sich, dass Menschen mit ME/CFS medizinisch unterversorgt sind, kaum Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung haben und wenig zufrieden mit der Behandlung durch Ärzt*innen sind. Da bisher keine umfassenderen Daten zur Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland vorlagen, war das erste Ziel der Studie, herauszufinden, wie es um die medizinische Versorgungssituation der Menschen mit ME/CFS in Deutschland bestellt ist.

Als zweites Ziel sollten die im angloamerikanischen Sprachraum bereits validierten DePaul-Symptom Fragebögen Kurzform (DSQ-SF) und Post-Exertional Malaise (DSQ-PEM) ins Deutsche übersetzt und für den Gebrauch im deutschen Sprachraum validiert werden. Der DSQ-SF ist eine von Prof. Dr. Jason und seinem Team entwickelte Operationalisierung der ME/CFS-Symptomatik anhand der CCC mit 14 Fragen, die die Bereiche Fatigue, PEM, Schlaf, Schmerzen, neurokognitive, autonome, neuroendokrine und immunologische Symptome umfassen. In vorherigen Studien konnte der DSQ-SF zuverlässig zwischen ME/CFS-Patient*innen, gesunden Kontrollen und MS-Patient*innen unterscheiden und hatte eine vergleichbare Spezifität wie der längere DePaul Symptom Questionnaire 1 (DSQ-1) mit 99 Fragen. Der DSQ-SF ist also ein sehr gut geeignetes Instrument, um die ME/CFS-Symptomatik vergleichsweise zeitsparend und zuverlässig zu erfassen. Der DSQ-PEM wurde entwickelt, um das Leitsymptom von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise, spezifisch und zuverlässig zu messen. Der DSQ-PEM unterscheidet dabei besonders gut zwischen ME/CFS und anderen Erkrankungen mit Fatigue, wie z. B. MS oder dem Post-Poliosyndrom.

Was sind die Hauptergebnisse?

Demografie:

Die Mehrheit der Teilnehmenden war weiblich (75 %). Das mittlere Alter betrug 47 Jahre (von 18 bis 76). Die Stichprobe entspricht also hinsichtlich der Geschlechterverteilung und des Alters den Ergebnissen anderer Studien (z. B. Bakken et al., 2014), die herausgefunden haben, dass mehr Frauen als Männer von ME/CFS betroffen sind. 97 % der Teilnehmenden hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, 99 % lebten in Deutschland. Der Bildungsstand der Teilnehmenden war hoch (41 % hatten einen Hochschulabschluss). 59 % der Teilnehmenden gaben eine Erwerbsunfähigkeit an. Weniger als ein Viertel gab an, in Teil- oder Vollzeit zu arbeiten. Dieses Ergebnis stimmt mit den Ergebnissen von Bateman et al. (2014) überein, die in ihrer Studie den Anteil an erwerbsunfähigen ME/CFS-Betroffenen mit 60 % angaben. Die Mehrheit der Teilnehmenden war bereits seit mehr als 2 Jahren an ME/CFS erkrankt. Bei 20 % begannen die Symptome schon im Jugendalter. In Übereinstimmung mit früheren Studien (z. B. Salit, 1997) begann bei Dreiviertel der Befragten die ME/CFS-Erkrankung nach einem Infekt.

Diese Ergebnisse zeigen, dass ME/CFS-Betroffene in Deutschland meist schon mehrere Jahre durch die Erkrankung eingeschränkt sind. Trotz des hohen Bildungsniveaus der Befragten konnte nur eine Minderheit am Erwerbsleben teilhaben. Das bedeutet, dass auch in Deutschland – so wie in anderen Ländern wie z. B. den USA (z. B. Jason et al., 2021) oder Großbritannien (Collin et al., 2011) – ME/CFS mit massiven finanziellen und ökonomischen Einbußen einhergeht. Da es sich bei ME/CFS um eine chronische Erkrankung handelt, wird sich diese Lage ohne kurative Therapien voraussichtlich nicht ändern. Der Schaden für die Volkswirtschaft ist groß (40 Mrd. €/Jahr für die EU; Pheby et al., 2020).

Medizinische Versorgungssituation:

Es zeigte sich, dass Menschen mit ME/CFS auch in Deutschland medizinisch unterversorgt sind und Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung wahrnehmen. Die meisten Teilnehmenden (69 %) gaben an, in den letzten 6 Monaten bei Ihrem Hausarzt/Ihrer Hausärztin aufgrund von ME/CFS vorstellig gewesen zu sein. Der Großteil (66 %) nutzte in den letzten 6 Monaten Materialien zur Selbsthilfe (z. B. Selbsthilfeliteratur oder Selbsthilfegruppen) oder alternativmedizinische Ansätze (55 %). Nur ein Drittel (33 %) gab an, in den letzten 6 Monaten bei eine:r ME/CFS-Spezialist:in gewesen zu sein. Auch der Anteil der besuchten Fachärzt*innen (meistgenannt: Neurologie, Psychiatrie, Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Umweltmedizin, Hämatologie und Onkologie) betrug kaum mehr als ein Drittel. 16 % gaben an, überhaupt nicht wegen ME/CFS in Behandlung zu sein. Diese Ergebnisse zeigen, dass wie in den USA (Bowen et al., 2005; Sunnquist et al., 2017; Tidmore et al., 2015) in Deutschland ebenfalls die Zahl von Fachärzt*innen/ Spezialist*innen, die sich mit ME/CFS auskennen, zu gering ist.

Im Mittel gaben die Betroffenen an, eher unterdurchschnittlich zufrieden mit ihren Arztbesuchen, der Behandlung und den medizinischen Kenntnissen der behandelnden Ärzt*innen in Bezug auf ME/CFS zu sein. Die hohe Nutzung von Selbsthilfeangeboten und alternativen Ansätzen kann ebenfalls dafür sprechen, dass die Haus- und Fachärzt*innen die Erkrankten nicht zufriedenstellend versorgen. Ein Viertel der Betroffenen gab an, bei auf ME/CFS spezialisierten Ärzt*innen in Behandlung zu sein. Diese Betroffenen waren mit der medizinischen Versorgung durch die Spezialist*innen signifikant zufriedener als mit der Versorgung durch sonstige Ärzt*innen. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass eine verbesserte Aus- und Fortbildung von Allgemeinmediziner*innen in Bezug auf ME/CFS sehr wichtig ist (Muirhead et al., 2021).

Die Mehrheit der Befragten gab spezifische Barrieren bzw. Hürden für eine Nutzung von Versorgungsangeboten in Bezug auf ME/CFS an. Am häufigsten genannt wurden geografische und logistische Gründe (kein:e ME/CFS-Spezialist:in in der Nähe (79 %), zu weite Entfernungen (56 %)) sowie finanzielle und versicherungsbezogene Gründe (71 %) bzw. dass die Kosten für eine Behandlung durch ME/CFS-Spezialist*innen nicht von der Krankenversicherung übernommen werden (58 %). Weitere Gründe waren mangelnde Kenntnisse über Versorgungsangebote (66 %) und eine Einschränkung des Zugangs zu Versorgungsangeboten durch ME/CFS (54 %).

Deutsche Version des DSQ-SF:

Solange es keine diagnostischen Tests oder Biomarker für ME/CFS gibt, ist die Erfassung der Symptomatik mit Fragebögen die beste verfügbare Möglichkeit zur Feststellung von ME/CFS. Bisher lagen jedoch keine geprüften deutschsprachigen Fragebögen vor. Die im Rahmen der Studie erstellte deutsche Übersetzung des DSQ-SF entsprach den psychometrischen Gütekriterien und es zeigten sich wie erwartet Zusammenhänge mit dem allgemeinen Gesundheitszustand. Je höher die durch den DSQ-SF gemessene Symptomatik, desto schlechter war der Gesundheitszustand. Besonders ausgeprägt waren die Zusammenhänge des DSQ-SF mit körperlicher Funktionsfähigkeit und körperlichen Schmerzen, moderate Zusammenhänge zeigten sich zudem mit den Bereichen soziale Funktionsfähigkeit, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, Vitalität und psychisches Wohlbefinden. Nur geringe Zusammenhänge zeigten sich mit den Bereichen körperliche Rollenfunktion und emotionale Rollenfunktion (also wie sehr körperliche und emotionale Probleme alltägliche Aktivitäten beeinflussen). Zusammenfassend ist die deutschsprachige Version des DSQ-SF ein zeitsparendes und geprüftes Instrument zur Erfassung der ME/CFS-Symptomatik.

Deutsche Version des DSQ-PEM:

Durch einen Programmierfehler bei der Umfrage wurde der DSQ-PEM nicht vollständig erfasst. Zwei Fragen des DSQ-SF und DSQ-PEM sind identisch, wurden jedoch nur einmal abgefragt. Für eine psychometrische Auswertung müssten sie aber für jeden Fragebogen separat gemessen werden. Daher konnte die deutsche Übersetzung des DSQ-PEM innerhalb dieser Studie nicht auf psychometrischen Eigenschaften geprüft bzw. validiert werden. Die Autor*innen haben den DSQ-PEM in der deutschen Übersetzung im Anhang des Papers zur Verfügung gestellt. Die Übersetzung sollte in weiteren Studien geprüft werden.

Wie sind die Ergebnisse zu bewerten?

Natürlich unterliegt die Studie gewissen Einschränkungen, da sie querschnittlich ist und somit keinen Zeitverlauf abbilden kann. Zudem ist die Stichprobe trotz der umfassenden Rekrutierungsstrategie eventuell nicht repräsentativ für alle Menschen mit ME/CFS in Deutschland und es wurden keine Vergleichsgruppen (gesunde Kontrollen, Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen) untersucht.

Nichtsdestotrotz bietet die Studie neue Erkenntnisse in Bezug auf die mangelnde medizinische Versorgungssituation vom Menschen mit ME/CFS in Deutschland und zeigt aktuelle Handlungsbedarfe auf. Zusätzlich stellt sie mit der deutschen Version des DSQ-SF einen Fragebogen zur Verfügung, der zur Messung von ME/CFS im deutschen Sprachraum geeignet ist.

Referenz:

Froehlich, L., Hattesohl, D. B. R., Jason, L. A., Scheibenbogen, C., Behrends, U., & Thoma, M. (2021). Medical care situation of people with Myalgic Encephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome in Germany. Medicina, 57(7), 646. https://doi.org/10.3390/medicina57070646

Hier geht es zur Originalstudie.