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Neues Interesse für ME/CFS durch Long COVID

Neues Interesse für ME/CFS durch Long COVID

Worauf wir für beide Krankheitsbilder aufbauen können 

Die COVID-19-Pandemie lenkt mit Long COVID den Blick der Medizin auf das Krankheitsbild ME/CFS sowie verwandte postvirale Erkrankungen. Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die häufig auf Infektionskrankheiten folgt. Sie wurde seit der Klassifizierung als neurologische Krankheit durch die WHO 1969 nur unzureichend erforscht, sodass es bis dato einen vergleichsweise knappen Grundstock an Forschungspublikationen gibt. Für die in der Häufigkeit und Krankheitsschwere am ehesten vergleichbare Multiple Sklerose existieren beispielsweise zehnmal mehr wissenschaftliche Studien als für ME/CFS. So fehlt es für die Krankheit bisher an einem validierten und reliablen diagnostischen Biomarker, der Pathomechanismus der Erkrankung ist noch unzureichend verstanden und bisher gibt es keine zugelassenen Medikamente. Zudem wird das Krankheitsbild häufig trotz Vorliegen der charakteristischen Symptome nicht diagnostiziert, sodass die Dunkelziffer hoch ist.

Dieser Beitrag soll aktuell relevante Forschungsschwerpunkte zu ME/CFS zusammenfassen und die bisher belegten pathophysiologischen Überschneidungen zwischen ME/CFS und Long COVID darlegen.

Paradigmenwechsel: von überholten psychosomatischen Krankheitsmodellen zu biomedizinischer Forschung

Jahrelang dominierten vor allem psychiatrische Studien das Bild von ME/CFS. Diese verwendeten oft weit gefasste Einschlusskriterien, waren Open-label-Studien mit rein subjektiven Endpunkten und hatten teilweise gravierende methodische Mängel. Die Studien basierten mit Variationen auf dem Krankheitsmodell, dass Patient*innen nach einem Infekt lediglich dekonditioniert seien, jedoch „dysfunktionale Krankheitsüberzeugungen“ und ein Vermeidungsverhalten entwickelt hätten, was sie daran hindere wieder gesund zu werden. Daher sollte eine Modifizierung der Krankheitsüberzeugungen eine Besserung der Symptomatik nach sich ziehen. Diese These gilt inzwischen als obsolet. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) bewertet in seiner neuen ME/CFS-Leitlinie die Qualität der Evidenz für die Wirksamkeit aktivierender psychotherapeutischer und sporttherapeutischer Interventionen bei allen 236 Ergebnissen der untersuchten Studien als niedrig bzw. sehr niedrig. Statt aktivierender Maßnahmen empfiehlt die Leitlinie das sogenannte Pacing, bei dem Patient*innen strikt innerhalb ihrer Energie- und Belastungsgrenzen bleiben, um eine Zustandsverschlechterung zu vermeiden. Das von Patient*innen und Patientenorganisationen präferierte Pacing wird ebenso von den amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und der WHO Europa empfohlen.

Mit der nun pandemiebedingt gesteigerten medizinischen und öffentlichen Aufmerksamkeit für chronische postvirale Erkrankungen beginnen einige Forscher*innen sich neu mit Long COVID und ME/CFS auseinanderzusetzen. Erste Studien zeigen, dass die Überschneidung von Long COVID und ME/CFS groß ist (Kedor et al., 2022Mancini et al., 2021González-Hermosillo et al., 2021Mirfazeli et al., 2021).

Auch die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit für ME/CFS und Long COVID nimmt spürbar zu. Die neue Bundesregierung der Ampelkoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag nun verpflichtet, für ME/CFS und Long COVID „ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen“ zu erschaffen. Zudem fordern Petitionen zu Long COVID und ME/CFS neben angemessener Versorgung auch Aufklärung sowie umfangreiche Investitionen in biomedizinische Forschung, und erreichen mit über 50.000 bzw. über 90.000 Unterschriften breite gesellschaftliche Unterstützung.

Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Autoimmunität, Dysregulation des autonomen Nervensystems und Reaktivierung latenter Viren

Autoimmunität ist für ME/CFS, wie für viele weitere (postvirale) Krankheiten auch, eine zentrale Hypothese zum potenziellen Krankheitsmechanismus (Sotzny et al., 2018Wirth et al., 2020). Funktionellen Autoantikörpern, die an körpereigene, G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPCR) binden, wird dabei eine wichtige Rolle zugeschrieben. Für ME/CFS speziell geht es vor allem um Autoantikörper, die an ß-adrenerge und muskarinerge Rezeptoren binden (Loebel et al., 2016Bynke et al., 2020). Diese Rezeptoren sind für den durch das autonome Nervensystem gesteuerten Blutfluss relevant. Eine Blockade der Rezeptoren und eine daraus folgende Dysregulation der Signalwege könnte die bei ME/CFS auftretenden Symptome autonomer Dysfunktion erklären. So zeigt sich bei ME/CFS-Patient*innen ein lageabhängig reduzierter zerebraler Blutfluss, der mit der Intensität der berichteten orthostatischen Intoleranz im Zusammenhang steht (Campen et al., 2020). Zudem wird vermutet, dass auch die muskuläre Durchblutung verringert sein könnte (Wirth et al., 2021).

Ein Mechanismus hinter der Entstehung von funktionellen Autoantikörpern könnte sein, dass Virusproteine eine homologe Struktur zu körpereigenen Proteinen (z. B. G-Proteine der GPCR) haben, sodass bestimmte gegen das Virusprotein bzw. -antigen gerichtete IgG „kreuzreagieren“ und ebenfalls an das körpereigene Protein binden (Proal & Van Elzakker, 2021). Dieser Mechanismus wird auch molekulares Mimikry genannt.

 

Chronische Infektionen und Reaktivierung latenter Viren

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt umfasst chronische (latente) Infektionen, die am Krankheitsmechanismus von ME/CFS maßgeblich beteiligt sein könnten (Rasa et al., 2018). Hierbei liegt der Fokus insbesondere auf humanen Herpesviren (HHV). Für HHV-6 konnte gezeigt werden, dass eine Reaktivierung des Virus zur Fragmentierung von Mitochondrien und somit zu einem dysfunktionalen Energiestoffwechsel führt (Prusty et al., 2018). Der gleiche Effekt konnte durch die Hinzugabe von Blutserum von ME/CFS-Patient*innen erzielt werden, wobei nicht klar ist, welcher Faktor im Blut der Erkrankten dafür verantwortlich ist. Neben metabolischen Faktoren könnten auch hier die ME/CFS-typischen Autoantikörper eine Rolle spielen (Schreiner et al., 2020).

Ebenso wird dem HHV-4, auch als Epstein-Barr-Virus (EBV) bezeichnet, eine wichtige Rolle in der Krankheitsentstehung von ME/CFS zugeschrieben. Nach dem durch das Epstein-Barr-Virus ausgelösten Pfeifferschen Drüsenfieber entwickelt sich bei einem Teil der Erkrankten ME/CFS (White et al., 1998; Hickie et al., 2006; Jason et al., 2020). Nun zeigt sich bei Long COVID, dass COVID-19 häufig mit einer Reaktivierung von EBV einhergehen kann (Gold et al., 2021). Diese Reaktivierung könnte für die Krankheitsentstehung von Long COVID und post-COVID ME/CFS relevant sein.

Immunmodulatorische Therapieansätze

Um der Dysregulation der Signalwege von ß-adrenergen und muskarinergen Rezeptoren entgegenzuwirken, werden verschiedene immunmodulatorische Therapien getestet, eine davon ist die Immunadsorption. Bei der Immunadsorption werden die Immunglobuline der Klasse G (IgG) aus dem Blutplasma der Patient*innen entfernt. In zwei Pilotstudien mit 10 bzw. 5 Teilnehmer*innen zeigte sich nach der Immunadsorption eine substanzielle Reduktion der IgG. Bei einem Teil der Patient*innen konnte eine kurzfristige und bei einem kleineren Teil konnte eine langfristige Verbesserung der ME/CFS-Symptome beobachtet werden (Scheibenbogen et al., 2018; Tölle et al., 2020). Allerdings zeigten einzelne Patient*innen auch Verschlechterungen der Symptome.

Einen ähnlichen Therapieansatz hat der von dem Biotechnologie-Unternehmen Berlin Cures entwickelte Wirkstoffkandidat BC 007. Dieser kann ein weites Spektrum an Autoantikörpern neutralisieren, die an GPCR binden. In einem Heilungsversuch an einem Long-COVID-Patienten mit ME/CFS-Symptomatik konnten verschiedene Autoantikörper neutralisiert und über den Beobachtungszeitraum von vier Wochen nicht mehr nachgewiesen werden. Damit einher ging eine Vollremission der ME/CFS-Symptome und des nach COVID-19 aufgetretenen Geschmackverlustes sowie eine Normalisierung der verringerten retinalen Durchblutung (Hohberger et al., 2021). Über die Langzeitwirkung der Therapie liegen derzeit noch keine Daten vor. Das verantwortliche Forschungsteam der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat zwei weitere Heilungsversuche bei Long-COVID-Patient*innen durchgeführt (Pressemitteilung). Die daraufhin beantragten Fördergelder für eine klinische Pilotstudie mit BC 007 wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung freigegeben.

Diagnostischer Biomarker

Nach wie vor fehlt ein validierter diagnostischer Biomarker, der ME/CFS-Betroffene zuverlässig von Gesunden sowie Betroffenen anderer (verwandter) Erkrankungen unterscheidet. Eine Vielzahl an potenziellen Biomarkern wird beforscht (Übersicht). Dazu gehört u. a. eine ME/CFS-spezifische mRNA-Signatur (Metselaar et al., 2021) sowie eine ME/CFS-spezifische Reaktion mononukleärer Zellen des peripheren Blutes auf hyperosmotischen Stress (Esfandyarpour et al., 2019).

Pathophysiologische Überschneidungen zwischen ME/CFS und Long COVID

Während der Krankheitsmechanismus hinter ME/CFS noch unzureichend verstanden ist, ist das Triggerereignis relativ klar: Drei von vier Betroffenen berichten, dass der Krankheitsbeginn auf einen Infekt folgte (Salit, 1997Froehlich et al., 2021). Epidemiologische Studien belegen verschiedene virale und nicht-virale (Bakterien, Parasiten und Pilze) Auslöser von ME/CFS, darunter auch das dem SARS-CoV-2-Virus am nächsten verwandte SARS-CoV-1-Virus (Islam et al., 2020). Nun zeigt sich, dass Langzeiterkrankte nach der Infektion mit SARS-CoV-2 ähnliche und häufig dieselben Symptome aufweisen, wie sie von ME/CFS bekannt sind (Davis et al., 2021). Die großen symptomatischen Überschneidungen legen nahe, dass ähnliche oder gleiche pathophysiologische Befunde zu Grunde liegen. Bisher konnten bereits einige Erkenntnisse zu ME/CFS in Long COVID-Kohorten repliziert werden.

So zeigen sich ähnlich wie bei ME/CFS (Loebel et al., 2016; Bynke et al., 2020) auch bei Long-COVID-Patient*innen funktionelle Autoantikörper gegen ß-adrenerge Rezeptoren und muskarinerge Acetylcholinrezeptoren (Wallukat et al., 2021). In einer PET-Studie an ME/CFS-Patient*innen von 2012 konnte gezeigt werden, dass ein erhöhtes Level an funktionellen Autoantikörpern gegen muskarinerge Acetylcholinrezeptoren (mAChR) mit verringerter Bindung eines Liganden an den mAChR im ZNS einhergeht (Yamamoto et al., 2012). Die naheliegendste Erklärung ist, dass die mAChR teilweise durch die funktionellen Autoantikörper blockiert sind.

Die bei ME/CFS bekannte verringerte Verformbarkeit roter Blutkörperchen (Saha et al., 2019) wurde inzwischen auch für Long COVID nachgewiesen (Kubánková et al., 2021). Diese wirkt sich negativ auf die mikrovaskuläre Durchblutung und die Sauerstoffversorgung des Gewebes aus. Zudem zeigt sich wie bei ME/CFS (Tirelli et al., 1998Siessmeier et al., 2003), auch bei Long COVID ein regional reduzierter Hirnstoffwechsel (Guedj et al., 2021Morand et al., 2021), der unter anderem mit neurokognitiven Einschränkungen (Brain Fog) im Zusammenhang steht. Außerdem leiden Betroffene von Long COVID an einer verringerten peripheren Sauerstoffverwertung (Singh et al., 2021), ebenso wie Betroffene von ME/CFS (Melamed et al., 2019Joseph et al., 2021).

Abb.: Überschneidungen von ME/CFS und Long COVID. Die Tabelle listet Studien mit vergleichbaren Befunden in ME/CFS- und Long-COVID-Kohorten. Direkte Hyperlinks zu den gelisteten Studien finden sich in diesem interaktiven PDF

Diese Replikationen machen deutlich, wie lohnend es ist, auf den Erkenntnissen zu ME/CFS aufzubauen und die biomedizinische Evidenz zu dieser Erkrankung in die Planung und Hypothesenbildung zu Long-COVID-Studien mit einfließen zu lassen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland hatten aus diesem Grund in der gemeinsamen Stellungnahme anlässlich der Koalitionsverhandlungen der neuen Bundesregierung explizit gefordert, die Krankheitsbilder gemeinsam zu beforschen, damit Kompetenzen gebündelt werden und mögliche Erkenntnisse beiden Patient*innengruppen zugute kommen.

Redaktion: mth