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Informationsblatt – Physiotherapie bei ME/CFS

Informationsblatt – Physiotherapie bei ME/CFS


Das Wichtigste zusammengefasst

  • Achtung: Sport, Trainingsprogramme, graduelle Aktivierungstherapie (GET), Auftrainieren, der Versuch, die Leistungsgrenzen auszuweiten, sind bei ME/CFS kontraindiziert und können zu schweren Nebenwirkungen bzw. zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen. 
  • Neben körperlicher Aktivität über der Überlastungsschwelle können auch kognitive Aktivität oder Reize eine Verschlechterung des Gesundheitszustands, die Post-Exertionelle Malaise (PEM), auslösen.
  • Die Therapie muss an die individuelle Symptomatik, pathologischen Grenzen und Tagesform angepasst werden.

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine chronische neuroimmunologische Erkrankung, die viele Körpersysteme betrifft und oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Sie tritt häufig postinfektiös nach unterschiedlichen viralen Erregern wie dem Epstein-Barr-Virus oder Influenzaviren auf, aber auch andere Auslöser sind beschrieben. Die Symptomatik von ME/CFS ist durch einen deutlich reduzierten allgemeinen Funktionsstatus mit Exazerbation aller Symptome nach Belastung (Post-Exertionelle Malaise, s. u.) und krankhafte Schwäche (Fatigue) charakterisiert. Weitere Symptome und beschriebene Pathologien, die für die Physiotherapie relevant sind, sind ein rasch eintretender muskulärer Kraftverlust mit Erniedrigung der anaeroben Schwelle, großflächige mäandernde Muskelschmerzen, Kreislaufregulationsstörungen im Stehen oder Sitzen mit verminderter Hirndurchblutung (orthostatische Intoleranz), eine endotheliale Dysfunktion mit gestörter Sauerstoffextraktion in peripheren Geweben und Organen, Konzentrations-, Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen (auch als „Brain Fog“ bezeichnet), eine Dysregulation des autonomen Nervensystems, Gelenk-, Nerven- und/oder Kopfschmerzen, eine ausgeprägte Reizsensibilität vor allem gegenüber Geräuschen, Licht sowie Berührung, Kälte und Hitze im Rahmen einer Temperaturregulationsstörung und immunologische Symptome wie z. B. Halsschmerzen und geschwollene Lymphknoten. Zusätzlich können neurologische Störungen (z. B. ataktische Störungen, Faszikulationen, Blasenfunktionsstörungen) auftreten. (Für weiterführende Informationen siehe Informationsblätter ME/CFS – Übersicht sowie ME/CFSDiagnose, Behandlung und Hinweise zur Betreuung.)

Zu beachtende Komorbiditäten sind neben einem Posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (PoTS) oder einer anderen Form der orthostatischen Intoleranz außerdem Fibromyalgie, Migräne und Endometriose. Eine Häufung von Auffälligkeiten im Bereich des kraniozervikalen Übergangs, der hypermobilen Bindegewebserkrankungen (EDS) und dem Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie ist in der Literatur beschrieben.

Insbesondere relevant im Kontext der Physiotherapie ist das Kernsymptom von ME/CFS, die Post-Exertionelle Malaise: Die Verschlechterung aller Symptome nach körperlicher (inklusive orthostatischer), kognitiver und emotionaler Aktivität. Die belastungsinduzierte Symptomverschlechterung tritt dabei oft verzögert auf (bis zu 48 Stunden) und ist lange anhaltend (> 14 Stunden). Typischerweise verstärken sich nach Belastung alle oben genannten Symptome wie Schwäche, Muskelschmerzen, Brain Fog, Reizsensibilität, Fieber, geschwollene Lymphknoten und mehr. Erkrankte beschreiben diesen Zustand häufig als „Crash“. Die PEM geht oft mit einer rapiden Reduktion des verbliebenen Funktionsniveaus einher, die Tage oder Wochen andauern kann. Die PEM kann zu einer bleibenden Zustandsverschlechterung – bis hin zur kompletten Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit – führen. Je nach Schweregrad kann PEM bereits nach leichten alltäglichen Tätigkeiten auftreten (Unterhaltungen, Spaziergänge, Arztbesuche; bei schweren Verlaufsformen kann PEM bereits durch Berührung, visuelle Reize oder Geräusche ausgelöst werden). Aktuelle Studien sprechen für eine verminderte Durchblutung und in Folge gestörte mitochondriale Funktion der Muskulatur unter Belastung als Ursache von PEM.

PEM und Muskelschwäche

Im Rahmen wissenschaftlicher Forschung zu ME/CFS wurde körperliche Belastung gezielt zur Provokation von PEM und zum Nachweis pathologischer Veränderungen nach muskulärer Aktivität eingesetzt. 

  • Nach zweizeitigen kardiopulmonalen Belastungstests konnte gezeigt werden, dass der erneute Abruf der erzielten Leistung sowie die maximale Sauerstoffkapazität (VO2max) nach 24 Stunden im Gegensatz zu Gesunden deutlich vermindert ist. 
  • Die Fatigabilität der Muskulatur (=verminderte muskuläre Kraft nach Belastung) kann mittels wiederholter Handkraftmessung objektiviert werden. 
  • In Studien konnte gezeigt werden, dass die Erholungsdauer ME/CFS-Betroffener nach körperlicher Belastung im Schnitt ca. 12 Tage dauert, die gesunde Kontrollgruppe benötigte hierzu nur ca. 2 Tage. 
  • Im Plasma Betroffener konnten vergleichend zu Gesunden mitochondriale und immunologische Veränderungen nach kardiopulmonaler Belastung nachgewiesen werden. 
  • In der Muskelbiopsie konnten nach Belastung Nekrosen gezeigt werden. 
  • Im 23Na-MRT zeigten sich nach muskulärer Belastung erhöhte intramuskuläre Na-Spiegel im Vergleich zu Gesunden als Hinweis für einen gestörten Salzhaushalt infolge einer Minderdurchblutung. 
  • Störungen des zellulären Stoffwechsels sowie Hinweise auf mitochondriale Störungen sind beschrieben. Studien zeigen auch, dass die bei ME/CFS zu beobachtende orthostatische Intoleranz nicht auf Dekonditionierungseffekte zurückzuführen ist.

PEM darf nicht mit physiologischen Effekten nach Training Gesunder oder Dekonditionierungseffekten gleichgesetzt werden und ist als pathologische systemische Antwort auf die Pathophysiologie bzw. auf Aktivität oberhalb der pathologischen Belastungsgrenze zu verstehen. Gezielte Provokation sollte aufgrund des Risikos einer ggf. dauerhaften Zustandsverschlechterung unbedingt vermieden werden.

Pacing ist die wichtigste Form des Krankheitsmanagements

Für ME/CFS gibt es keine kausale Therapie. Eine symptomorientierte Therapie kann dennoch die Lebensqualität der Erkrankten positiv beeinflussen. Das Kernkonzept des Krankheitsmanagements nennt sich Pacing und beschreibt einen schonenden Umgang mit den knappen Energieressourcen der Erkrankten und ein darauf ausgerichtetes Energie- und Aktivitätsmanagement. Ziel ist es, strikt unterhalb der durch die Krankheit vorgegebenen Belastungsgrenze zu bleiben, um keine PEM und damit eine ggf. dauerhafte Zustandsverschlechterung auszulösen. Ein Hilfsmittel kann die Herzfrequenzmessung zur Aktivität unterhalb der anaeroben Schwelle sein. Als Formel zur Bestimmung der maximalen Herzfrequenz kann folgende verwendet werden: [220 – Lebensalter] × 0,6 = max. Herzfrequenz. Die Formel dient als Richtwert und sollte individuell ausgetestet werden. Bei ausgeprägter orthostatischer Intoleranz, PoTS oder höherem Lebensalter findet sie keine Anwendung. Mehr Informationen finden Sie unter „Weiterführende Literatur“ und unter mecfs.de/Pacing.

Bei der physiotherapeutischen Behandlung gilt es die individuellen Grenzen und Tagesform zu beachten

Aufgrund von PEM können die Grenzen bei ME/CFS nicht durch steigernde Bewegungstherapie erweitert werden. Das aktuelle Energieniveau kann tagesformabhängig und im Verlauf der Erkrankung stark fluktuieren. 

Allgemein kann festgehalten werden, dass Ziel, Art und Dosierung der physiotherapeutischen Behandlung an die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Betroffenen angepasst werden müssen. Die Beachtung der individuellen pathologischen Überlastungsschwelle ohne Auslösung von PEM in den Folgetagen ist oberstes Gebot jeder Behandlung. Die konstante Betreuung durch eine behandelnde Person ermöglicht die gezielte Beobachtung von Fluktuationen und reduziert den kommunikativen Aufwand für die Betroffenen. Eine Zustandsverschlechterung in den Folgetagen sollte nachbeobachtet und aktiv erfragt werden, um die Behandlung entsprechend anzupassen. Bei akuten Zustandsverschlechterungen sollte eine kurzfristige Absage des Behandlungstermins ermöglicht werden. 

Sowohl Therapeut*in als auch Betroffenen sollte klar bewusst sein, dass Konzepte mit gradueller Leistungssteigerung (Graded Exercise Therapy – GET) nach aktuellen Leitlinien (NICE) kontraindiziert sind und laut aktuellem IQWiG-Bericht schwere Nebenwirkungen einer GET nicht auszuschließen sind. Oft ist ein aktives Umdenken aller Beteiligten hierfür erforderlich, da Leistungssteigerung durch Auftrainieren als Therapiekonzept und im gesunden Erleben tief verankert, bei ME/CFS aber nicht möglich ist. Im Gegenteil kann der Versuch, die Leistungsgrenzen auszuweiten, zu schweren Nebenwirkungen bzw. zur rapiden Verschlechterung noch bestehender Kapazitäten und Lebensqualität führen.

Der gewählte physiotherapeutische Behandlungsansatz kann sich an den individuell vorliegenden Hauptsymptomen und -beschwerden orientieren und sowohl physikalische als auch Bewegungstherapie, immer unter Beachtung der beschriebenen Limitierung, beinhalten. 

Die Initiative „Physios for ME“ empfiehlt verkürzte Behandlungsdauer, Pausen während der Behandlung und den Einsatz physischer Tests nur bei Notwendigkeit. Eine liegende Position während Wartezeiten, Übungen und Therapien kann zur Minderung der Kreislaufbelastung beitragen. Im Praxissetting sollte auch auf weitere Einschränkungen und Bedürfnisse wie z. B. eine bestehende Reizsensitivität (Geräusche, Duft, Berührung, Licht) und/oder Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen geachtet werden. Bei schwerer Erkrankten sollten Hausbesuche erwogen werden, da bereits der Weg in die Praxis zu PEM führen kann. Da Infekte Zustandsverschlechterungen verursachen können, sollten konsequente Maßnahmen zum Infektionsschutz der Betroffenen wie beidseitige Masken und Luftfilter ergriffen werden.

Besondere Vorsicht bei der Behandlung schwer Erkrankter

Bei schwer Erkrankten können bereits kleinste Reize (Berührung, Licht, Geruch) oder Mobilisierungen PEM auslösen. Montoya et al. geben im Artikel zur Versorgung von schwer Erkrankten (zu finden unter „Weiterführende Literatur“) wichtige Hinweise: „Physiotherapeut*innen können bei Maßnahmen zur Energieeinsparung, Schmerzbehandlung, dem Gelenkschutz zur Vorbeugung von Gelenkkontrakturen, der Körperpositionierung und sanften Bewegungs-, Dehnungs- und Kraftübungen unterstützen, um die Auswirkungen von Inaktivität und Bettlägerigkeit auszugleichen. Die angewendeten Maßnahmen müssen so erfolgen, dass sie keine PEM oder sensorischen Empfindlichkeiten (z. B. bei Berührung) auslösen. Vorsicht ist geboten, da sogar passives Anheben des gestreckten Beins durch einen Therapeuten nachweislich PEM ausgelöst hat. Bei Patient*innen mit komorbidem hypermobilem Ehlers-Danlos-Syndrom ist Vorsicht beim Dehnen geboten.“

Weitere Informationsblätter zu den Themen Übersicht, Diagnose und Behandlung, Pacing und mehr finden Sie unter: mecfs.de/Informationsblatt