Screenshot der Überschrift der Long-COVID-Richtlinie

Richtlinie des G-BA zu Long COVID 

Richtlinie des G-BA zu Long COVID 

ME/CFS nach allen Auslösern eingeschlossen 

Die neue „Richtlinie über eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung für Versicherte mit Verdacht auf Long-COVID und Erkrankungen, die eine ähnliche Ursache oder Krankheitsausprägung aufweisen“ des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ist nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 9. Mai 2024 in Kraft getreten.

In dieser Richtlinie wird erstmalig ein Behandlungs- und Versorgungspfad für ME/CFS-Betroffene – unabhängig vom Auslöser der Erkrankung – im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und Versorgung festgehalten. Auch präpandemisch an ME/CFS Erkrankte sind explizit eingeschlossen.

Prozess der Richtlinienentstehung

Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen und besteht unter anderem aus Vertreter*innen der Trägerorganisationen der gesetzlichen Krankenkassen, der Vertragsärzteschaft und der Krankenhäuser sowie drei unparteiischen Mitgliedern und der Patientenvertretung. Aufgrund eines neuen gesetzlichen Auftrags im SGB V, der im Hinblick auf den weiteren Kreis der eingeschlossenen Patientengruppe wesentlich auf die Stellungnahme (S. 2–3) der unparteiischen Mitglieder des G-BA aus 2022 zurückzuführen ist, hat der G-BA mit der Richtlinie die Rahmenbedingungen der gesundheitlichen Versorgung der gesetzlich krankenversicherten Long-COVID- und ME/CFS-Betroffenen sowie der infolge einer Impfung von ähnlicher Symptomatik Betroffenen in Deutschland geregelt. Die Akteur*innen der gesetzlichen Krankenversicherung, wie Krankenkassen sowie Vertragsärzt*innen, sind an die Richtlinie des G-BA gebunden. 

Es handelt sich hierbei nicht um eine medizinische Leitlinie. Leitlinien werden üblicherweise von medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet und stellen medizinische Handlungs- und Therapieempfehlungen nach aktuellem Stand der Wissenschaft für Ärzt*innen dar. Die Richtlinie hingegen enthält keine konkreten Therapieempfehlungen. Vielmehr regelt sie auf der Basis der aktuell verfügbaren Evidenz im Detail, welche Rollen und Aufgaben die unterschiedlichen Ansprechpartner*innen im Gesundheitswesen bei der Versorgung Betroffener zugewiesen bekommen, um eine flächendeckende, interdisziplinäre und standardisierte Diagnostik und den zeitnahen Zugang zu einem multimodalen Therapieangebot zu ermöglichen. Hierbei wurde der Versuch unternommen, die Versorgung von allen unter dem Begriff „Long COVID“ subsumierten sowie entsprechend vergleichbaren Krankheitsbildern zu regeln und dabei die Versorgung effizient zu gestalten und die Beschwerden der Betroffenen angemessen zu behandeln.  

Mit dem Engagement der an den Beratungen des Gremiums teilnehmenden Patientenvertretung, der der Fatigatio e. V. angehörte, sowie mehreren unterstützenden Stellungnahmen von Fachgesellschaften, ist es gelungen, das notwendige Zusammendenken von Folgeerscheinungen von SARS-CoV-2 und ME/CFS zu erreichen. Auch die Erfahrungen präpandemisch ME/CFS-Betroffener im Gesundheitssystem flossen in die Überlegungen zu einem angepassten Versorgungspfad aller Betroffener, unabhängig vom Auslöser der Erkrankung, ein. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat den Prozess mit einer ausführlichen schriftlichen Stellungnahme und im Rahmen der mündlichen Anhörung unterstützt. Unsere Stellungnahme und der Redebeitrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Sebastian Musch können in den veröffentlichten „Tragenden Gründe zum Beschluss“ (S. 152–179) und im Wortprotokoll der mündlichen Anhörung (S. 653) eingesehen werden. Im Ergebnis der Anstrengungen aller Beteiligten wurde ME/CFS – ob nach SARS-CoV-2, anderer Ursache oder unbekanntem Auslöser – erstmalig in eine Versorgungsrichtlinie der deutschen Gesundheitsversorgung aufgenommen. 

Die Erstfassung der Richtlinie begleitend sind „Tragende Gründe zum Beschluss“ veröffentlicht worden. Diese vertiefen Grundlegendes zum Anliegen und Zweck der Richtlinie, erläutern die Paragrafen und bieten Hintergrundinformationen für die Ausgestaltung in der Praxis. Da die Richtlinie die Versorgung von Long-COVID-Patient*innen, inklusive aller unter dem Begriff inkludierten Subgruppen und nicht anderweitig geregelten Folgeerkrankungen nach SARS-CoV-2, als auch ME/CFS-Patient*innen regelt, sind die Ausführungen auf ein breites Patientenspektrum ausgelegt.  

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat begleitend zu diesem Beitrag eine Gegenüberstellung der ME/CFS-spezifischen Paragrafen der Richtlinie mit Zitaten aus den Tragenden Gründen erstellt. 

Fortschritte für ME/CFS-Erkrankte

Als erste Versorgungsrichtlinie mit Bezug zu ME/CFS stellt die Erstellung der Richtlinie an sich schon einen Meilenstein für Betroffene dar. Eine Zielsetzung der Richtlinie ist es, den im IQWiG-Bericht festgehaltenen Versorgungsbedarf durch Inklusion aller ME/CFS-Erkrankten, unabhängig vom Auslöser, zu umfassen. Dies zeigt, dass der Bedarf erkannt wurde.  

Aktuelle Kenntnisse zum Krankheitsbild bzw. der Verweis auf entsprechende Leitlinien und Informationsangebote, das Kernsymptom Post-Exertionelle Malaise (PEM), die Relevanz von Komorbiditäten, wie das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (PoTS), die Diagnosekriterien und Screening-Methoden werden in den Tragenden Gründen näher erläutert und sollen Anwendung und Berücksichtigung finden. Die Angaben in den Tragenden Gründen ersetzen keine vertieften Kenntnisse, vor allem auch hinsichtlich symptomatischer Therapie, können aber als solide Einstiegshilfe in die Thematik verstanden werden. Den Behandler*innen wird Fortbildung zu den in der Richtlinie inkludierten Folgeerkrankungen und Krankheitsbildern empfohlen, der interdisziplinäre Austausch soll zum Wissenstransfer und -austausch gezielt angestrebt werden. Zum tieferen Verständnis sei hier erwähnt, dass Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zwar allgemein zu regelmäßiger Fortbildung in vorgegebenem Umfang verpflichtet sind, die Wahl der ergriffenen Fortbildungsmaßnahmen und Inhalte obliegt jedoch der individuellen Freiheit der Behandler*innen. Laut Erkenntnissen aus dem aktuellen IQWiG-Bericht und dem Erfahrungshorizont Betroffener entsprechend ist hier ein großer Nachholbedarf in der Breite der ärztlichen Versorgung anzunehmen. Die Informationen aus den Tragenden Gründen vermitteln erste grundlegende und praxisrelevante Kenntnisse und Tools. 

PEM, das Kernsymptom einer ME/CFS-Erkrankung, wird klar benannt und wird in den Versorgungspfaden vor allem in seiner erheblichen Relevanz für eine belastungsadaptierte Diagnostik und Therapie hervorgehoben. Bei Vorliegen von Belastungsintoleranz mit PEM soll eine Bündelung diagnostischer Maßnahmen im Rahmen einer akutstationären Aufnahme erwogen werden, um ggf. notwendige mehrfache ambulante diagnostische Termine zu vermeiden. Die Berücksichtigung von PEM im Rahmen der erforderlichen Diagnostik hat das Potenzial, viel Leid und Zustandsverschlechterungen durch den damit einhergehenden physischen, kognitiven und emotionalen Aufwand der Betroffenen zu reduzieren. Hier wird es darauf ankommen, bei Ärzt*innen und anderen Leistungserbringer*innen das Verständnis und die Akzeptanz des Krankheitsbilds mit seiner spezifischen Symptomatik zu erreichen, um eine belastungsadaptierte Versorgung zu ermöglichen. Das Vorliegen von PEM oder weiterer Einschränkungen, wie Reizsensibilität, sollte zudem auf allen auszustellenden Verordnungen vermerkt werden, um bei weiterführenden Behandlungen, etwa Physiotherapie, Beachtung zu finden. Dies ist ein bemerkenswerter Ansatz, der bei Umsetzung nicht nur dem Schutz der Erkrankten dient, sondern zugleich für Aufmerksamkeit und Wissenszuwachs zur Erkrankung bei nachbehandelnden Professionen sorgt. Auch Pacing wird in der Richtlinie erwähnt, in den Tragenden Gründen adäquat näher erläutert und dessen Relevanz im Rahmen der Vermeidung von Zustandsverschlechterungen hervorgehoben. 

Die klare Konzentrierung auf eine*n Ansprechpartner*in mit Koordinierungsfunktion (bei entsprechendem Bedarf) erfolgt in Abstimmung mit der oder dem Betroffenen und hat das Potenzial, die Versorgung zielgerichteter und effizienter zu gestalten. Hier werden in den meisten Fällen Hausärzt*innen die zuständigen Ansprechpersonen mit Koordinierungsfunktion sein, bei Kindern die Kinder- und Jugendärzt*innen. Besonders hervorzuheben ist, dass bereits zu Beginn einer Behandlung oder Betreuung Hinweisen auf PEM oder einer orthostatischen Intoleranz nachgegangen werden soll sowie bei Vorliegen von ME/CFS eine erste Schweregradbeurteilung erfolgen soll, um den Versorgungsbedarf, aber auch die gegebenen Einschränkungen im Verlauf der weiteren Diagnostik und Therapie besser einschätzen und anpassen zu können. Konsequent umgesetzt könnte dies einen großen Beitrag zur Verringerung der Dunkelziffer an Erkrankten und der Reduzierung von Fehldiagnosen leisten. 

Darauffolgend sollen interdisziplinäre Versorgung und symptomatische Therapie zügig eingeleitet werden. Im Rahmen der Koordinationsfunktion ist auch die Aufklärung weiterer involvierter Träger*innen über die Erkrankung und bestehende Einschränkungen vorgesehen. Dies kann sowohl die Betroffenen direkt unterstützen als auch der Wissensverbreitung zu ME/CFS dienen. Eine solche Unterstützung durch Aufklärung wird dringend benötigt, beispielsweise für die Beschulung ME/CFS-erkrankter Kinder, gegenüber Arbeitgebenden, Pflegediensten, Sozialleistungsträgern etc. 

Bei unter Behandlung fortbestehenden Symptomen oder Verschlechterung unter Behandlung, wie sie im Fall von ME/CFS als schwere chronische Erkrankung ohne kausale Therapiemöglichkeiten und teils progredientem Verlauf anzunehmen sind, oder bei Vorliegen von Warnhinweisen, ist die Weiterleitung der Versorgung auf fachärztliche Ebene oder Ebene der spezialisierten Versorgung vorgesehen. Auch bei entsprechender Schwere und Komplexität der Erkrankung ist eine Versorgung durch die spezialisierte ambulante Versorgung (in der Regel Hochschulambulanzen) vorgesehen. Eine interdisziplinäre Versorgung und der Austausch von Erfahrungen bei der Behandlung Betroffener soll angestrebt werden.  

Auf allen Versorgungsebenen ist ein erleichterter Zugang für schwer eingeschränkte Patient*innen oder komplexer Erkrankte vorgesehen. Hausärztlich und fachärztlich Tätige sollen bei Bedarf Betroffene im Hausbesuch aufsuchen und telemedizinische Angebote nutzen. Vor allem auch im Bereich der spezialisierten ambulanten Versorgung soll der Zugang zu entsprechenden Angeboten den schwerer Betroffenen so überhaupt erst ermöglicht werden. Eine entsprechende Umsetzung ist sehr begrüßenswert, da sowohl die Versorgung dieser Gruppe als auch deren Teilnahme an klinischen Studien unter den aktuellen Bedingungen oft verwehrt bleibt.  

Ein Einbezug der Realität Schwerstbetroffener, die bisher aufgrund ihrer Einschränkungen und fehlender angepasster Angebote aus der (interdisziplinären) Versorgung und Forschung quasi ausgeschlossen sind, könnte die perzeptive Auffassung der Erkrankung im Bereich der Versorgungsstrukturen nachhaltig beeinflussen und ist im Bereich Forschung – ob Grundlagen- oder Versorgungsforschung – unabdingbar. 

Kritische Anmerkungen

Unverständlich bleibt, weshalb ME/CFS nicht in den Titel der Richtlinie aufgenommen wurde. Strittig bis zum endgültigen Beschluss der Richtlinie am 21. Dezember 2023, wurden hier sowohl Patientenvertretung als auch eine Reihe von Stellungnehmenden mit Expertise und klinischer Erfahrung zu ME/CFS, die mit Dringlichkeit eine Nennung von ME/CFS bereits im Titel der Richtlinie forderten, nicht erhört. Diese wäre sowohl der hohen Versorgungsrelevanz der Erkrankung als auch der Realität bestehender Lücken im Versorgungsangebot für die Subgruppe der präpandemisch und nicht COVID-19-assoziierter Erkrankter angemessen gewesen. Hier wurde verpasst, den zukünftig für die Versorgung zuständigen Leistungserbringer*innen mit einem Blick auf den Titel der Richtlinie die Relevanz der Richtlinie für alle inkludierten Patientengruppen zu vermitteln. Dass ME/CFS, als klar definierte eigenständige Krankheitsentität unter „Erkrankungen, die eine ähnliche Ursache oder Krankheitsausprägung (wie Long-COVID) aufweisen“, subsumiert wird, wird der Erkrankung und ihrer vernachlässigten Rolle in der Versorgungslandschaft nicht gerecht.  

Ein zweischneidiges Schwert für die Versorgung ME/CFS-Betroffener ist das Konzept der vorliegenden Versorgungsrichtlinie, das den Anspruch hat, allen unterschiedlichen Folgeerkrankungen einer SARS-CoV-2-Infektion, Impfung und ME/CFS in einem gemeinsamem Versorgungspfad gerecht zu werden. Ein gemeinsamer Ansatz für alle inkludierten Erkrankten verschlankt zwar die Regelungen, bildet die Komplexität der Gegebenheiten (z. B. dass inkludierte Krankheitsentitäten und Symptomatiken, Schwere der Erkrankung, Versorgungsbedarf und bereits bestehende Versorgungsstrukturen zur Behandlung aller inkludierten Betroffenen stark differieren) nur unzureichend ab. Mit diesem Ansatz wird die Richtlinie insbesondere der Schwere und Komplexität von ME/CFS und den speziell zu den in Bezug auf dieses Krankheitsbild bestehenden Versorgungslücken schließlich an einigen Stellen nicht gerecht. 

So ist laut Richtlinie bei entsprechender Schwere und Komplexität der Erkrankung (z. B. unter Therapie fortbestehender oder sich verschlechternder Symptomatik, längerer Schul- und Arbeitsunfähigkeit oder Vorliegen von Warnhinweisen) eine Versorgung im Bereich der spezialisierten ambulanten Versorgung (in der Regel Hochschulambulanzen) zu erwägen. In Bezug auf Long-COVID-Erkrankte ist dies mit Zugang zu bestehenden Long-COVID-Ambulanzen (teils mit der Einschränkung eines Infektionsnachweises) möglich. Spezialambulanzen zu ME/CFS sind jedoch bis auf deutschlandweit zwei Spezialambulanzen mit lokalen und weiteren Zugangsbeschränkungen nicht existent. Falls hier auf symptomatisch spezialisierte Ambulanzen (z. B. Schmerzambulanzen) ausgewichen werden soll, sind weiterhin weder vertiefte Kenntnisse zu der Behandlung von ME/CFS noch eine an die Bedürfnisse ME/CFS-Erkrankter angepasste Versorgung zu erwarten. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf Psychiatrische Institutsambulanzen, bei denen nach bisheriger Erfahrung von einseitiger Krankheitsbetrachtung und dem Anliegen der Richtlinie widersprechend von einseitiger bzw. unvollständiger Diagnostik und Behandlung auszugehen ist.  

Zur von der Richtlinie vorgesehenen belastungsadaptierten akutstationären Diagnostik bei PEM sei angemerkt, dass eine auf PEM und konsekutiv ME/CFS-spezialisierte Patientenbetreuung in der hiesigen Versorgungslandschaft bisher nicht gegeben ist. 

De facto bleiben damit ME/CFS-Erkrankte, ohne SARS-CoV-2-Infektion als Auslöser der Erkrankung, trotz neuer Richtlinie zum aktuellen Zeitpunkt von der spezialisierten ambulanten Versorgung ausgeschlossen. Hier bedarf es dringend des Aufbaus der im Koalitionsvertrag zugesagten Spezialambulanzen, um den per Richtlinie beschlossenen Versorgungspfad zu ermöglichen und damit einhergehenden Versorgungsauftrag zu erfüllen.  

Der Zugang zur spezialisierten ambulanten Versorgung soll zudem erst ab moderatem Schweregrad der Erkrankung möglich sein. In den Tragenden Gründen wird zumindest missverständlich darauf hingewiesen, dass dies für die konsequente Umsetzung einer gestuften Versorgung nach dieser Richtlinie erforderlich ist. Zusätzlich sollen damit die Kapazitäten der spezialisierten Ambulanzen den schwierigen und komplexen Fällen vorbehalten werden. Dies mag vielleicht im Kontext überlaufener Long-COVID-Ambulanzen mit breitem Patientenspektrum nachvollziehbar sein, wird aber der Schwere und Komplexität der Symptomatik auch milder ME/CFS-Erkrankung nicht gerecht. Insofern besitzt das Krankheitsbild ME/CFS unabhängig vom individuell vorliegenden Schweregrad per se eine entsprechende Komplexität, die den Zugang zur spezialisierten ambulanten Versorgung generell begründet. Eine zeitnahe, spezialisierte, optimale Versorgung Betroffener mit „mildem“ Schweregrad sollte daher auch im Hinblick der Vermeidung einer Zustandsverschlechterung und eines Übergangs in höhere Schweregrade angestrebt werden.  

Für die Versorgung ME/CFS-Betroffener ohne SARS-CoV-2-Infektion als Auslöser ihrer Erkrankung heißt das, dass Diagnose und Koordination ihrer Erkrankung, aber auch die therapeutische Begleitung unter den gegebenen Bedingungen in den meisten Fällen in der Zuständigkeit ihrer Hausärzt*innen liegen wird. Komorbiditäten oder spezifische Symptome werden fachärztlich mitbetreut werden können. Die Qualität der Versorgung wird dementsprechend weiterhin maßgeblich vom Kenntnisstand zu ME/CFS der Behandler*innen in diesen Versorgungsebenen abhängen. Fortbildungsangebote müssen nun in der Breite der Versorgung ankommen und tatsächlich wahrgenommen werden, um dieses grundlegende Fundament für eine realistische Umsetzung der Richtlinie aufzubauen. Angesichts des weiterhin bestehenden großen Nachholbedarfs spezialisierter und aktueller Kenntnisse zu ME/CFS braucht es dringend die seit langem geforderte große Aufklärungskampagne zu ME/CFS, um überhaupt Bewusstsein für Ausmaß und Folgen der bestehenden Versorgungslücke in der Breite der Ärzteschaft und Gesellschaft zu schaffen. 

Eine Koordination durch Fachärzt*innen ist zwar prinzipiell auch möglich und vorgesehen, jedoch nur unter der Bedingung, dass diese die Erkrankten bereits vor ihrer ME/CFS-Erkrankung aufgrund anderweitiger Beschwerden oder Erkrankungen betreut haben. Diese unverständliche Hürde wird viele ME/CFS-Betroffene, die oft jung und aus voller Gesundheit heraus erkranken und daher keine fachärztlich betreuten vorbestehenden Erkrankungen hatten, von der Betreuung auf dieser Versorgungsebene ausschließen. Zusätzlich müssen möglicherweise bereits bestehende ME/CFS-koordinierende fachärztliche Betreuungen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, ggf. beendet und die Koordination an die Hausärzt*innen übertragen werden. 

Als problematisch kann sich auch erweisen, dass der Anspruch auf Erstellung eines Behandlungsplans und der Koordination der Behandlung (sowie die entsprechende noch abzuwartende Vergütung dieser Leistung für die koordinierenden Ärzt*innen nach EBM-Katalog) an eine quartalsmäßige Überweisung bzw. Behandlung durch eine*n Fachärzt*in oder durch die spezialisierte ambulante Versorgung gebunden ist. Damit soll sichergestellt werden, dass eine Koordinierungsleistung nur bei entsprechendem Bedarf geleistet wird. Dies geht jedoch an der Versorgungsrealität haus- und bettgebundener ME/CFS-Betroffener vorbei. Es bleibt abzuwarten, ob hier die in der Richtlinie vorgesehene fachärztliche Betreuung mittels Hausbesuchs oder Telemedizin umgesetzt wird. Da es bei ME/CFS trotz Schwere der Erkrankung und Komplexität der Symptomatik an einer fachärztlich zuständigen Disziplin fehlt, werden ME/CFS-Erkrankte trotz Einschränkungen bis hin zur Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit nicht selbstverständlich quartalsmäßig von fachärztlichen Spezialist*innen betreut. Problematisch kann sich die Vorgabe insbesondere bei der Versorgung Schwerstbetroffener erweisen, da sie aufgrund ihrer extremen Reizsensibilität und Einschränkungen kaum zu sozialer Interaktion fähig sind und damit selbst eine telemedizinische fachärztliche Betreuung nicht realisierbar ist. Dass hier der Anspruch auf Behandlungsplan und Koordination der Behandlung bzw. die Möglichkeit der Vergütung der Koordination des oft sehr komplexen Betreuungsbedarfs dieser schwerstkranken Betroffenen erlischt, ist unverständlich. Insgesamt ist die Verknüpfung des Koordinierungsbedarfs mit der Bedingung einer regelmäßigen fachärztlichen Betreuung sachlich nicht nachvollziehbar, weil die Koordination verschiedenste Leistungen enthält, die keinerlei Bezug zu einer regelmäßigen Facharztbetreuung besitzen, aber dennoch erforderlich sind (z. B. Ansprechperson für Jugendämter/Arbeitgebende/Schule, Zusammenarbeit mit Pflegediensten, Information zur Stärkung der Gesundheitskompetenz und Krankheitsbewältigung usw.).

Einen letzten großen Kritikpunkt stellt § 5 Abs. 1 Nr. 7 der Richtlinie mit einer bezüglich der Behandlung und Betreuung ME/CFS-Betroffener unglücklich getroffenen Formulierung dar. Hier ist als Aufgabe der hausärztlichen Versorgung „bei vorliegender spezifischer Indikation: die Beratung zu Selbst- und Leistungsmanagement (ggf. auch in Gruppen), z. B. bei Vorliegen von PEM die Beratung zum Pacing, die Beratung zu Methoden der Krankheitsbewältigung und Stressreduktion sowie die Beratung und Anleitung zu Methoden der therapeutisch begleiteten körperlichen Aktivierung“ aufgeführt.

Die Empfehlung therapeutisch begleiteter körperlicher Aktivierung ist bei Vorliegen von ME/CFS nicht evidenzbasiert. Unklar bleibt auch, welche Methoden der Krankheitsbewältigung im Kontext von ME/CFS gemeint sind. In den Tragenden Gründen werden erläuternd zu diesem Absatz die NICE-Leitlinie und der IQWiG-Bericht zitiert. Es wird hervorgehoben, dass hinsichtlich ME/CFS keine Evidenz für die Wirksamkeit früherer Behandlungskonzepte mit medizinischer Trainingstherapie mit steigender Belastung (Graded Exercise Therapy, GET) vorliegt und für kognitive Verhaltenstherapie (CBT) laut IQWiG allenfalls Evidenz für eine geringe Wirksamkeit. Unerwähnt bleibt jedoch, dass die allenfalls geringe Evidenz der Wirksamkeit von CBT nur im Rahmen mildem bis moderatem Schweregrads beurteilt wurde, dass GET gemäß NICE-Leitlinie kontraindiziert ist und dass laut IQWiG-Bericht schwere Nebenwirkungen einer GET nicht auszuschließen sind. Hier wäre eine differenziertere Darstellung mit klarer Abgrenzung der von körperlicher Aktivierung profitierenden Subgruppen des Long-COVID-Spektrums im Richtlinientext wünschenswert gewesen, um sowohl Betroffene als auch Versorgende vor Zustandsverschlechterung durch Fehlbehandlung zu schützen.  

Fazit und Ausblick

Die Aufnahme von ME/CFS in die Long-COVID-Versorgungsrichtlinie bietet die Chance, Wissen zu postinfektiösen Erkrankungen zu bündeln und somit zu einer verbesserten Versorgungssituation aller in der Richtlinie inkludierten Patient*innen beizutragen.

Die Richtlinie birgt Potential für eine deutliche und nachhaltige Verbesserung der Versorgung ME/CFS-Erkrankter in Deutschland. Jedoch bezieht sie sich auf Versorgungsstrukturen und setzt Kompetenzen voraus, die es für ME/CFS bislang nicht gibt. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung der Richtlinie sind daher flächendeckende Aufklärung und von ME/CFS-Expert*innen konzipierte Fortbildungen, vor allem auf hausärztlicher Ebene, sowie die Schaffung spezialisierter ambulanter Anlaufstellen für ME/CFS-Erkrankte unabhängig vom Auslöser der Erkrankung. Nur so können die beschlossenen Versorgungspfade und der damit einhergehende Versorgungsanspruch aller ME/CFS-Erkrankten erfüllt werden. Hier sind Politik und Gesundheitssystem in der dringenden Verantwortung, diese Strukturen zu schaffen. Dafür setzt sich die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS gemeinsam mit weiteren Patientenorganisationen und Akteur*innen ein. Ein konkretes Konzept zum Aufbau benötigter Strukturen legen die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland mit dem „Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung und Versorgung von ME/CFS und Long-COVID-Syndrom“ vor. 

In drei Jahren wird der G-BA prüfen, in welcher Form eine Evaluation der Richtlinie erforderlich ist. 

Weiterführende Links

  • Long-COVID-Richtlinie des G-BA (Link) 
  • Tragende Gründe zum Beschluss (Link) 
    • Schriftliche Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS: S. 152–179  
    • Redebeitrag des stellvertretenden Vorsitzenden Sebastian Musch: S. 653 
  • Gegenüberstellung der ME/CFS-spezifischen Paragrafen der Richtlinie mit Zitaten aus den Tragenden Gründen (Dokument erstellt von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS) (Link) 
  • Kostenlose, mit 3 CME-Punkten akkreditierte On-Demand-Fortbildung „Postvirale Erkrankungen: ME/CFS und Long COVID“ unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin (Link) 
  • „Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung und Versorgung von ME/CFS und Long-COVID-Syndrom“ der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland (Link) 
  • „Nationaler Aktionsplan für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom“ der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland (Link)

Redaktion: mda, sca

Editor: jhe, tbe, mth, dha