Statement zum Abschlussbericht „Aktueller Kenntnisstand zu ME/CFS“ des IQWiG
IQWiG streicht Nutzenaussage für Aktivierungstherapien, Abschlussbericht bleibt aber hinter den Erwartungen zurück
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit am 15. Mai den Bericht „Aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand zu Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS)“ vorgelegt.
Der Bericht wurde vom IQWiG in den letzten zweieinhalb Jahren erarbeitet und umfasst 343 Seiten. Eine Zusammenfassung ist zudem als „Gesundheitsinformation“ unter gesundheitsinformation.de veröffentlicht. Darüber hinaus gibt es eine 700-seitige Dokumentation der Stellungnahmen und ein Transkript der mündlichen Anhörung zum Vorbericht.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat im Rahmen des Prozesses der Berichtserstellung u. a. eine Stellungnahme zum Berichtsplan und eine 100-seitige methodische Stellungnahme zum Vorbericht eingereicht, konkrete Verbesserungsvorschläge für die Gesundheitsinformation gemacht, an den beiden mündlichen Anhörungen des IQWiG teilgenommen, eine Umfrage zu Erfahrungen mit Aktivierungstherapien unter unseren Mitgliedern durchgeführt, sich mit internationalen ME/CFS- Organisationen über Erfahrungen in ähnlichen Situationen ausgetauscht und einen offenen Brief von 39 international führenden Wissenschaftler*innen an das IQWiG organisiert.
Das IQWiG hat bei einigen Abschnitten des Berichts Teile unserer wissenschaftlichen Argumentation berücksichtigt. So konnten wir nach dem Vorbericht noch einige wichtige Verbesserungen, auch für die Gesundheitsinformation, erreichen. Insgesamt weist der Bericht allerdings immer noch eklatante Mängel auf und steht an vielen Stellen nicht im Einklang mit dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Erkrankte und Angehörige sollten sich jedoch darauf verlassen können, dass zuständige Institutionen wissenschaftlich sauber und evidenzbasiert arbeiten und Patientenorganisationen sollten nicht ehrenamtlich ihre Arbeit kontrollieren müssen.
Positiv ist, dass der Bericht:
- Post-Exertional Malaise (PEM) als zentrales Symptom von ME/CFS beschreibt
- die Prävalenzangabe von ME/CFS nach dem Vorbericht höher ansetzt
- das Schadenspotential von Aktivierungstherapien anerkennt
- Symptomatik und Schweregrade abbildet
- Kinder und Jugendliche mit ME/CFS thematisiert
- eine verbesserte Versorgung fordert, inklusive Aufklärung und Integration von Lehrinhalten zu ME/CFS in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen
- verstärkte Forschung zu Ätiologie, Therapie und Versorgung fordert
Keine Nutzenaussage für ansteigende Aktivierungstherapie (GET)
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS begrüßt, dass das IQWiG für ansteigende Aktivierungstherapie (GET) keine Nutzenaussage mehr trifft, da schwere Nebenwirkungen dieser Behandlung nicht auszuschließen sind. Die Begründung für diese Entscheidung bezieht sich allerdings nur auf das Schadenspotential, dies ist aufgrund der hohen Verzerrungen der untersuchten Studien nicht weitreichend genug. Die zwei untersuchten Studien weisen erhebliche methodische Mängel auf, die wir in der Stellungnahme detailliert dargelegt haben. Dies sind nachträgliche Änderungen an den zentralen Ergebnismaßen, unvollständige Berichtserstattung, die Verwendung veralteter diagnostischer Kriterien, der Einschluss von Personen mit psychischen Begleiterkrankungen und/oder ohne PEM, hohe Verzerrungseffekte durch mangelnde Blindung und subjektive Endpunkte. Kritik an den Studien wurde bereits zahlreich in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Die vom IQWiG durchgeführte Analyse zeigt trotz hohem Verzerrungsgrad kurzfristig und mittelfristig nur bei 2 von 11 Symptomen leichte Effekte. Dieses Ergebnis würde ohnehin keine Nutzenaussage zulassen. Das IQWiG sollte daher nicht nur aufgrund des hohen Schadenspotentials, sondern auch aufgrund der methodischen Mängel keine Empfehlung für GET aussprechen.
Aufgrund der Leitsymptomatik von ME/CFS, der Post-Exertional Malaise, sind weitere Studien zu GET, wie vom IQWiG zur Klärung gefordert, aufgrund des massiven Schadenspotentials für ME/CFS-Erkrankte unethisch und dürfen nicht durchgeführt werden. Es gibt bereits eine Vielzahl von Studien und Umfragen, die den mangelnden Nutzen sowie das Schadenspotential von Aktivierung belegen. Zudem stellen zahlreiche Studien, im Einklang mit dem Patientenerleben der Post-Exertional Malaise fest, dass bei ME/CFS eine massive Störung des Energiestoffwechsels vorliegt. Während eines nach 24 Stunden wiederholten kardiopulmonologischen Belastungstests fällt bei ME/CFS-Betroffenen im Gegensatz zu gesunden Kontrollen die anaerobe Schwelle stark ab. Die Meta-Analyse von Franklin und Graham (2022) findet für das bei ME/CFS verstärkte Absinken der anaeroben Schwelle eine große Effektstärke von d = -0.96. Weitere Studien belegen zudem zahlreiche vaskuläre Abnormalitäten (Endotheliale Dysfunktion, reduzierter Blutfluss, verringerte systemische Sauerstoffversorgung), die allesamt der dem GET-Ansatz zugrundeliegenden Dekonditionierungshypothese deutlich widersprechen (siehe auch unsere Seite zur Pathophysiologie von ME/CFS). In einer Umfrage zur Erfahrung mit Aktivierungstherapien berichten unsere Mitglieder eindrücklich von den Schäden, die sie aufgrund dieser Therapien erlitten haben.
Statt einer Aufforderung zur weiteren Beforschung von GET bräuchte es eine klare Warnung seitens des IQWiG vor den schwerwiegenden und nachhaltigen Zustandsverschlechterungen, die viele ME/CFS-Betroffene bei GET erleiden. Sinnvoll wäre zudem eine ausführliche Aufarbeitung der verfügbaren Evidenz zum Schadenspotential von Aktivierung bei ME/CFS. Es entbehrt jeglicher Logik, von Nutzenempfehlungen auf Grund des Risikos schwerwiegender Nebenwirkungen abzusehen, gleichzeitig aber Forschung zu solchen risikoreichen Therapien zu fordern. Würde ein Medikament solch ein Risiko für Erkrankte bedeuten, würde es vom Markt genommen und nicht weiter beforscht werden.
GET muss außerdem auch aus den zugehörigen Gesundheitsinformationen gestrichen werden, da im Abschlussbericht des IQWiG zu GET keine Nutzenaussage getroffen werden kann und schwerwiegende Nebenwirkungen zu erwarten sind. Diese Einschätzung muss sich auch in den Gesundheitsinformationen widerspiegeln.
CBT-Empfehlung ist auf Basis der untersuchten Studien nicht tragbar
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS bedauert, dass die im Abschlussbericht formulierte Empfehlung zu kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) zur Behandlung der Erkrankung auf Basis der untersuchten Studien bestehen bleibt. Unsere Kritik an der Therapieempfehlung basiert auf mehreren Punkten, die wir bereits im Rahmen des Vorberichts geäußert haben. Die wichtigsten Punkte sind:
- Die Annahme, dass ME/CFS durch Dekonditionierung und aktivitätsvermeidende Verhaltensweisen aufgrund dysfunktionaler Kognitionen entstehe, ist nicht wissenschaftlich belegt. Diese Annahme bildet jedoch die theoretische Grundlage der untersuchten Studien nicht nur für die im Abschlussbericht gestrichene GET, sondern auch die weiterhin empfohlene CBT. Dass das IQWiG die zugrundeliegenden Krankheitsmodelle nicht untersucht hat, ist ein eklatanter Mangel des Berichts.
- Die Studien, auf die das IQWiG seine Therapieempfehlungen stützt, weisen erhebliche methodische Mängel auf, die wir in unserer Stellungnahme detailliert dargelegt haben. Dies beinhaltet unter anderem nachträgliche Änderungen an den zentralen Ergebnismaßen, unvollständige Berichtserstattung, die Verwendung veralteter diagnostischer Kriterien, den Einschluss von Personen mit psychischen Begleiterkrankungen und/oder ohne PEM, hohe Verzerrungseffekte durch mangelnde Blindung und subjektive Endpunkte. Patient*innen wird durch die Interventionen antrainiert, ihre Symptome zu ignorieren und so zu tun, als wären sie gesund. Die Patient*innen werden daher vermutlich auf den Fragebögen besser antworten, als sie sich fühlen.
- Wie die European ME Coalition (EMEC) in ihrer Stellungnahme aufzeigt, basieren die Empfehlungen auf Studien, die den Kriterien des eigenen Methodenhandbuchs des IQWiG nicht gerecht werden. Das Allgemeine Methodenhandbuch des IQWiG, Version 6.1, ist sich der Problematik von Studien ohne Verblindung bewusst und gibt Kriterien an, nach denen die Evidenz solcher Studien bewertet werden kann. In Abschnitt 9.1.4 (S. 171) wird empfohlen, bei nicht möglicher Verblindung einen möglichst objektiven Endpunkt zu wählen, der in seiner Ausprägung und Erfassung so wenig wie möglich durch die unverblindet erhebende Person beeinflusst werden kann. Die objektiven Endpunkte der untersuchten Studien, wie der 6-Minuten-Gehtest oder die Aktigrafie, zeigten jedoch weder für GET noch für CBT einen klinischen Effekt. Die analysierten CBT-Studien zeigen in den meisten primären und sekundären Endpunkte keinen klinischen Nutzen der CBT. Selbst dort, wo ein geringfügiger Nutzen sichtbar war, könnte dieser durch Verzerrungen erklärt werden. In der Langzeitbewertung, bei der möglicherweise eine geringere Verzerrung vorlag, wies keine der Messungen auf einen Vorteil der CBT hin. Die Kontrollgruppe erzielte ähnliche Ergebnisse wie die CBT-Gruppe.
Angesichts dieser erheblichen methodischen Mängel der Studien, die auf einem überholten Krankheitsmodell der falschen Krankheitsüberzeugung basieren und diese therapieren sollen, sind die vom IQWiG getätigten Nutzenaussagen und Behandlungsempfehlungen für CBT auf Grund der vorgebrachten Datenlage nicht tragbar und sollten aus der Gesundheitsinformation gestrichen werden.
Nur auf ausdrücklichen Wunsch der Erkrankten und als begleitende Maßnahme als Bewältigungsstrategie für das Leben mit einer schweren körperlichen Erkrankung (wie z. B. bei Multipler Sklerose oder Krebs üblich) können psychotherapeutische Interventionen bei ME/CFS Sinn ergeben, nicht als Behandlungsansatz für die Erkrankung selbst. Dabei sollte ein psychotherapeutischer Ansatz genutzt werden, der auf die grundlegenden Charakteristika von ME/CFS eingeht: Erstens die Tatsache, dass ME/CFS eine körperliche Erkrankung ist und daher eine heilende Behandlung organischer Natur sein muss; und zweitens, dass die Post-Exertional Malaise (PEM) das Leitsymptom von ME/CFS ist und somit eine angepasste psychotherapeutische Aufmerksamkeit erfordert. Ein solches Konzept wurde von Grande et al. (2023) vorgelegt.
Das untere Spektrum der angegebenen Prävalenz ist weiterhin zu niedrig
Wir begrüßen, dass das IQWiG seine Prävalenzschätzung angepasst hat und nun auch eine Schätzung für die Häufigkeit betroffener Kinder und Jugendlicher in Deutschland abgibt. Zwei berücksichtigte Primärstudien schätzen die Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen auf 70.000 bzw. 90.000 Fälle. Für Erwachsene wird eine Studie von Jason et al. (1999) und eine von Nacul et al. (2011) berücksichtigt und daraus eine Prävalenz-Range von 70.000–220.000 betroffenen Erwachsenen abgeleitet. In unserer Stellungnahme zum Vorbericht haben wir ausführlich dargelegt, warum die Studie von Nacul et al. (2011) die vielen Fälle von undiagnostizierten ME/CFS-Erkrankten unzureichend berücksichtigt und daher die Prävalenz unterschätzt. Aus unserer Sicht stellt die für Kinder und Erwachsene zusammengerechnete präpandemische Prävalenzangabe von 310.000 eine realistische Schätzung dar, die mit Daten aus anderen Ländern übereinstimmt, während die 140.000 die Betroffenenzahl unterschätzen dürfte. Erfreulich ist, dass das IQWiG SARS-CoV-2 als Auslöser von ME/CFS anerkennt und entsprechend einen Anstieg der Betroffenenzahl durch die Pandemie annimmt. Zahlreiche Studien wie bspw. Roessler et al. (2022) belegen, dass nach COVID-19 ein Teil der Infizierten ME/CFS entwickelt und die Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigen schon im Jahr 2021 einen deutlichen Anstieg der Gesamtzahl ME/CFS-Betroffener. Die Schätzung für Deutschland liegt inzwischen bei rund einer halben Million Menschen mit ME/CFS.
Symptomatik und Schweregrade gut abgebildet
Das IQWiG bespricht in Kapitel 4.2.2.2. ausführlich die Symptomatik und die Schweregrade nach den international gängigen Kriterien. Es beruft sich dabei hauptsächlich auf den Bericht des Institutes of Medicine (IOM) von 2015. Positiv hervozuheben ist, dass das IQWiG übereinstimmend mit internationalem Wissensstand und Forschung die Post-Exertional Malaise (PEM) als Leitsymptom von ME/CFS identifiziert. Als weitere zentrale Symptome besprochen werden Fatigue, Schlafstörungen, neurokognitive Symptome, orthostatische Intoleranz, Schmerzen und grippale Symptome. Die Schweregrade werden nach NICE 2021 klassifiziert. Zudem beschreibt das IQWiG eindeutig, dass ME/CFS bis zur Bettlägerigkeit führen kann und schwer bis sehr schwer Erkrankte auf Hilfsmittel wie Rollstühle sowie auf Pflege angewiesen sind. Auch benennt das IQWiG, dass Remissionen bei Erwachsenen selten sind.
Bestehende Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathophysiologie nicht ausreichend berücksichtigt
Das IQWiG spricht im Abschnitt „Ätiologie/Ursachen“ seines Berichts weiterhin davon, dass Infektionen als Auslöser „vermutet“ werden, ein kausaler Zusammenhang aber nicht nachgewiesen sei. Hierbei fällt auf, dass das IQWiG die epidemiologische Literatur zu Zusammenhängen mit Infektionserkrankungen völlig außer Acht lässt. Insbesondere für das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber zum Beispiel auch für die Influenza und inzwischen COVID-19, belegen mehrere Studien einen kausalen Zusammenhang zu ME/CFS. So zeigt beispielsweise eine prospektive Studie, ein Goldstandard im Studiendesign, von Jason et al. (2020) einen direkten Zusammenhang einer EBV-Infektion mit ME/CFS.
Insgesamt entsteht in diesem Abschnitt des Berichts der falsche Eindruck, dass noch nichts über die Pathophysiologie von ME/CFS bekannt sei. Zahlreiche Befunde wie die Endotheliale Dysfunktion, ein reduzierter zerebraler Blutfluss, ein erhöhter Laktatspiegel im Liquor oder eine verringerte systemische Sauerstoffversorgung wurden bereits in mehreren Studien bestätigt.
Divergenz zu internationalen Reviews und Leitlinien
Große internationale Gesundheitsbehörden warnen ausdrücklich vor den Gefahren für die Gesundheit durch GET:
Das britische NICE schreibt in der ME/CFS-Leitlinie: „Do not offer people with ME/CFS:
- any programme that […] uses fixed incremental increases in physical activity or exercise, for example, graded exercise therapy (see box 4)
- physical activity or exercise programmes that are based on deconditioning and exercise avoidance theories as perpetuating ME/CFS.“
Die CDC warnen: „Best practice: prevent harm! In the past, patients have been advised to be more active without any precautions about PEM. However, studies have demonstrated a lowered anaerobic threshold in patients with ME/CFS, suggesting impaired aerobic energy metabolism. Increased activity can thus be harmful if it leads to PEM.“
Die WHO schließt sich dem an: „Interventions for [Long COVID] rehabilitation based on fixed incremental increases in the time spent being physically active or graded exercise, should not be offered to people experiencing PESE (340).“
Sich dieser eindeutigen internationalen Warnung vor Aktivierungstherapien (GET) auf Grund von mangelnder Evidenz und zahlreichen Berichten von schwerwiegenden Nebenwirkungen durch Erkrankte anzuschließen, wäre auch für das IQWiG geboten gewesen. Stattdessen hat sich das IQWiG damit zufriedengegeben, keine Nutzenaussage für diese Therapien mehr zu treffen.
Zudem war die Prämisse des IQWiG-Berichts, auf Basis der Evidenzkartierung Nutzenbewertungen zu zwei spezifischen Therapieverfahre zu erstellen, unpassend und hat den Bericht in eine falsche Richtung gelenkt. Dies haben wir bereits in der Stellungnahme zum Berichtsplan kritisiert. NICE hat eine gründliche aktuelle Evidenzkartierung zu Therapieverfahren erstellt, die zeigt, was allgemein bekannt ist: Es gibt bislang keine allgemein wirksamen Therapieverfahren bzw. keine entsprechende Studienliteratur, da ME/CFS jahrzehntelang nicht ausreichend erforscht wurde. Folglich war von vornherein klar, dass der Fokus auf der Nutzenbewertung von zwei spezifischen Therapieverfahren derzeit keine neuen Ergebnisse bringen kann, der Situation nicht gerecht wird und am Bedarf vorbeigeht.
Mangelnde Einbeziehung von Betroffenen und Expert*innen
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) kündigte den Auftrag an das IQWIG erstmals bei einem Runden Tisch2020 mit dem BMG, BMBF, einem Referenten der Patientenbeauftragten und den vier ME/CFS-Patientenorganisationen an. Es sicherte fest zu, dass die Patientenorganisationen und ME/CFS-Expert*innen eng an der Ausarbeitung des Berichts beteiligt werden. Auch in verschiedenen Drucksachen veröffentlichte das BMG, der Auftrag ans IQWiG würde lauten, „den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu ME/CFS unter Einbindung auch der Betroffenenverbände aufzuarbeiten“. Doch verweigerte das IQWiG entgegen der Zusage eine feste Beteiligung von Patientenorganisationen. Sie konnten sich lediglich, wie jede Person, am regulären Stellungnahmeverfahren in Form von Reaktionen auf bereits erstellte Texte beteiligen, das jedoch nicht barrierefrei gestaltet ist.
Auch die ME/CFS-Expert*innen wurden nicht wie vereinbart fest einbezogen. Das IQWiG veröffentlichte 2021 zunächst eine Ausschreibung für zwei Sachverständige. Gesucht wurden zwei Fachärzt*innen beliebiger Fachrichtungen mit Expertise zu ME/CFS. Diese bereits veröffentlichte Ausschreibung wurde jedoch zurückgezogen und stattdessen eine neue Ausschreibung veröffentlicht: Nun wurden nur noch eine Fachärztin/ein Facharzt mit Expertise zu ME/CFS gesucht sowie eine Psychiaterin/ein Psychiater und eine Hausärztin/ein Hausarzt, für die statt „Expertise“ jeweils nur „Kenntnisse” zu ME/CFS ausreichen. Dafür gibt es bis heute keine sinnvolle Begründung des IQWiG. Dennoch machten die Patientenorganisationen neue Vorschläge für Sachverständige, die nicht angenommen wurden. Aus dem Bericht geht nun hervor, dass lediglich Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen als Expertin für ME/CFS beteiligt war. Daneben die emeritierte Professorin für Allgemeinmedizin Erika Baum und ein emeritierter Professor für Innere Medizin und Psychosomatik Wolfgang Eich. Mit Ausnahme drei veröffentlichter Reviews und einer Leitlinie zu Müdigkeit und Fatigue von Erika Baum, haben beide bisher an keiner wissenschaftlichen Publikation zu ME/CFS mitgewirkt und weisen in ihrer Vita keine spezielle klinische Erfahrung mit ME/CFS-Patient*innen auf. Zudem ist bekannt, dass psychosomatische Krankheitsmodelle bei ME/CFS konträr zum Patientenerleben und der wissenschaftlichen Evidenz stehen. Es ist unverständlich, dass neben Prof. Dr. Scheibenbogen nicht weitere Sachverständige mit mehr Erfahrung und expliziter Forschung zur Erkrankung ausgewählt wurden.
Insbesondere nach dem ersten Bericht des IQWiG zu ME/CFS aus dem Jahr 2008, der das Leitsymptom PEM nicht erwähnte und schädliche Aktivierungsempfehlungen ohne Evidenz enthielt, wäre auch im Sinne von Ärzt*innen und weiterem Fachpersonal wichtig gewesen – wie im Vorfeld fest zugesichert – nun gemeinsam mit Expert*innen und Patientenorganisationen die Evidenz sauber und verlässlich aufzuarbeiten. Hier hat das BMG versäumt, seine Zusage einzuhalten.
Fazit
Nach Jahrzehnten ist – mit der neuen S3-Leitlinie Müdigkeit der DEGAM und dem IQWiG-Bericht, der im Auftrag des BMG entstanden ist – Post-Exertional Malaise als Leitsymptom auch in Veröffentlichungen von deutschen Gesundheitsbehörden offiziell verankert. Auch die Schwere der Erkrankung wird erstmals offiziell anerkannt.
Dies hätte nicht so lange dauern dürfen. Jahrzehnte der Fehleinordnung und Fehlbehandlungen konnten nur passieren, da ME/CFS-Patient*innen nicht ernst genommen wurden. In den letzten Jahren hat in der medizinischen Forschung allgemein ein Wandel begonnen, Patient*innen zu beteiligen und mit ihnen statt über sie zu forschen. Der Beitrag von Patient*innen zum Gelingen von Forschungsprojekten ist entscheidend, ihre Perspektive auf den Nutzen der Forschung zentral. Ein Vorgehen wie vom IQWiG, das noch immer nicht bereit ist mit Menschen mit gelebter Erfahrung gleichberechtigt zusammenzuarbeiten, wird hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.
Zum wichtigen Thema der Patient*innenbeteiligung verweisen wir auch auf den Vortrag unseres Vorstandsmitglieds Sebastian Musch vom ME/CFS-Symposium an der Charité am 12. Mai, der auch online abrufbar ist: „ME/CFS-Forschung gemeinsam gestalten – Die Rolle der Patientenorganisationen“.
Es ist ein wichtiger Schritt, dass das IQWiG anerkennt, dass es für ansteigende Aktivierungstherapie (GET) keine aussagefähige Evidenz für einen Nutzen gibt und schwerwiegende Nebenwirkungen dieser Behandlung nicht ausgeschlossen werden können. Medizinische und relevante gesellschaftliche Akteure sollten diesbezüglich schnellstmöglich aufgeklärt werden, um Gesundheitsschäden durch Aktivierungstherapien in Zukunft zu vermeiden. Außerdem ist es an der Zeit, die verlorenen Jahre der Forschung aufzuholen und schnell und konsequent in qualitativ hochwertige biomedizinische Forschung zu investieren, damit es zeitnah effektive Therapien für ME/CFS-Erkrankte gibt. Wie schädlich Forschung von niedriger Qualität ist, hat auch dieser Bericht gezeigt.
Danke an alle, die sich für einen verbesserten Bericht engagiert haben
Wir bedanken uns bei den Mitgliedern unseres Teams, die innerhalb von 6 Wochen eine über 100-seitige Stellungnahme zum Vorbericht auf hohem akademischen Niveau erstellt haben, trotz ihrer schweren Erkrankung oder ihrem Vollzeitjob. Außerdem bedanken wir uns bei allen Organisationen, Initiativen und Privatpersonen, die eine Stellungnahme eingereicht und sich mit uns in der mündlichen Anhörung engagiert haben sowie den Erkrankten und Angehörigen, die sich mit uns für eine Verbesserung der Gesundheitsinformation eingesetzt haben. Ein großer Dank geht an alle Wissenschaftler*innen, die den offenen Brief unterschrieben haben, insbesondere Prof. Dr. Eliana Mattos Lacerda. Nicht zuletzt danken wir #MillionsMissing Deutschland und allen, die eine Postkarte ans IQWiG geschickt haben.
Weiterführende Links
- Zum Bericht des IQWiG
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Zur Gesundheitsinformation (Hinweis: es gibt zwei Tabs und mehrere Unterseiten)
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Zur Dokumentation der Stellungnahmen und dem Transkript der Anhörung
Redaktion: jhe, mth, dha, tel
Foto: IQWiG - © Dream Global/Christoph Pforr