Stellungnahme zur „Leitlinie Müdigkeit“

UPDATE – 22. Mai 2018

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) veröffentlicht am 22. Mai 2018 eine revidierte Fassung der „Leitlinie Müdigkeit“. Die DG für ME/CFS konnte verhindern, dass die Leitlinie verbindliche Behandlungsempfehlungen ausspricht, die nicht dem Stand der Forschung entsprechen.
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Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS distanziert sich von der „Leitlinie Müdigkeit“ der DEGAM

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) hat eine überarbeitet Fassung der „Leitlinie Müdigkeit“ herausgegeben. Die Leitlinie soll unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) veröffentlicht werden (aktuell noch im Review). In der Leitlinie befasst sich die DEGAM mit dem Krankheitsbild ME/CFS.

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat als Patientenvertreterin am Überarbeitungsprozess der Leitlinie teilgenommen, diese Teilnahme jedoch wegen methodischer, inhaltlicher und prozeduraler Mängel vorzeitig beendet. Zugleich distanzieren wir uns von der Leitlinie, da neueste internationale wissenschaftliche Erkenntnisse keine Berücksichtigung finden und das Krankheitsbild Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) eklatant falsch eingeordnet wird. Unsere Intervention bei der ständigen Leitlinienkommission und dem Präsidium der DEGAM führte zu keiner Auseinandersetzung mit unseren Eingaben. Wir bedauern dies sehr, da das AWMF-Regelwerk vorsieht, dass „aktuelle Forschungsergebnisse […] eine kurzfristige Aktualisierung einer gültigen Leitlinie notwendig machen“.

Position der DG

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS distanziert sich von der Leitlinie. Sie ist überzeugt, dass die aktuelle Forschungslage es nicht mehr gestattet, Aktivierungs- und Bewegungstherapie bei ME/CFS zu empfehlen, und betrachtet das Zustandekommen der Leitlinie als regularienwidrig. Sie hat ihre Kritik in einer Stellungnahme aufbereitet, welchen im Folgenden dargestellt wird.
Sebastian MuschVorsitzender

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat sich vorzeitig aus dem Überarbeitungsprozess der Leitlinie Müdigkeit zurückgezogen. Sie sieht grundlegende Mängel im Abschnitt zu ME/CFS und im Prozess, wie die Leitlinie zustande gekommen ist, und distanziert sich hiervon.

Die methodische Kritik zielt vor allem auf die Empfehlung der Aktivierungstherapie. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ist überzeugt, dass die aktuelle Forschungslage es nicht mehr gestattet, Aktivierungs- und Bewegungstherapien bei ME/CFS zu empfehlen. Sie hätte es für notwendig erachtet, dies in der Leitlinie deutlicher als bisher in den Handlungsempfehlungen herauszustellen und hat dafür folgende Formulierung während des Überarbeitungsprozesses vorgeschlagen:

 

Aktivierungs- und Bewegungstherapien (GET und CBT) können die Symptomatik und den Allgemeinzustand von ME/CFS-Patienten verschlechtern und sind deshalb kontraindiziert. Das Kardinalsymptom von ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise, die Verschlechterung der Symptomatik nach körperlicher und kognitiver Anstrengung. Damit verbunden ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz. Viele Patienten müssen daher sehr enge Belastungsgrenzen einhalten, um keine Verschlechterung der Symptomatik zu riskieren (sog. Pacing).

 

1. Inhaltliche und methodische Kritik

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat während der Konsultationsphase wiederholt methodische Schwierigkeiten in der Auswahl von Studien innerhalb des Methoden- und Evidenzreports der „Leitlinie Müdigkeit“ angesprochen, ohne dass dies grundlegende Beachtung fand. So wurden unserer Meinung nach relevante ME/CFS-Studien zur klinischen Forschung, zur Grundlagenforschung und Expertenwissen in den Bereichen Therapie, Diagnose, Ätiologie und Symptomevaluation nicht in die Leitlinie mit einbezogen. Das Autorenteam hat uns geantwortet, dass Studien zur Grundlagenforschung und Expertenmeinungen nicht mit einbezogen würden, da eine höhere Evidenz bei anderen klinischen Studien vorliege. Hier sei erwähnt, dass in anderen Kontexten in der Leitlinie Studien der Grundlagen-Klasse IV durchaus zitiert werden, es bisher nur wenige klinische Studien zu ME/CFS gibt, und neuere klinische Studien, die Aktivierungstherapien empfehlen, auf Grund von methodischen Schwächen aktuell unter breiter akademischer Kritik stehen1.

Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, da die Leitlinie eine psychosoziale/psychosomatische Genese von ME/CFS sowie Aktivierungstherapien in den Vordergrund stellt, obwohl sich in den letzten Jahren die Hinweise auf eine autoimmune bzw. immunologische Ätiopathologie stetig mehren, neuere Studien einen gestörten Energiestoffwechsel, ein gestörtes Immunsystem und eine gestörte Kreislauffunktion nachweisen konnten. Der IOM-Report stellt die Belastungsintoleranz der Patienten mit Verschlechterung der Symptomatik nach körperlicher Aktivität als Kardinalsymptom in den Vordergrund (Post-Exertional Malaise).2 Potentiell negative Auswirkungen von körperlicher und kognitiver Überlastung sind zudem in zahlreichen Studien bestätigt worden. Aktivierungstherapien sind daher unser Meinung nach kontraindiziert. Die Hypothese einer psychosomatischen Genese ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Die Haltung der DEGAM, dass es sich bei ME/CFS um eine psychosoziale/psychosomatische Erkrankung handelt, steht zudem im scharfen Kontrast zur internationalen Entwicklung. Im August 2017 haben die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und die National Institutes of Health (NIH) die Empfehlungen zur Aktivierungs- und Verhaltenstherapie gestrichen.3 Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat zudem im September 2017 bekannt gegeben, dass genug Evidenz vorliege, die eine vollständige Revision der Leitlinie für ME/CFS („NICE Guideline CG53“) erforderlich mache. Durch aktuelle Forschungsergebnisse müsse verstärkt auch ein biologisches Modell mit messbaren Abweichungen in Erwägung gezogen werden. Die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training wird aufgrund mangelnder Nachweise von NICE in Frage gestellt.4 Das British Medical Journal: Best Practice kam im Oktober 2017 ebenfalls zu dem Schluss, dass die aktuelle Literatur das biopsychosoziale Model von CFS nicht stütze und Studien zur Aktivierungstherapie erheblichen methodischen Schwächen unterlägen.5

Auf unseren Hinweis, dass klinische Studien, die einen angeblich positiven Effekt von Aktivierungstherapien nachweisen konnten (z. B. PACE 2011, 2013), auf Grund von methodischen Mängeln und mangelnder Signifikanz aktuell unter breiter akademischer und öffentlicher Kritik stehen, geht das Autorenteam im Entwurf der Leitlinie mit keinem Wort ein und bezog auch im ergänzenden Schriftverkehr mit uns dazu keine Stellung.

Die Leitlinie erscheint uns daher im Kapitel ME/CFS inhaltlich von einer einseitigen Haltung geprägt zu sein, bildet die möglichen Hypothesen und Expertenmeinungen zu ME/CFS nicht umfassend ab und entspricht daher nicht dem aktuellen Forschungsstand und den Anforderungen an eine S3-Leitlinie.

2. Kritik am Überarbeitungsprozess

Wir haben im Prozess der Leitlinienüberarbeitung mehrmals und dringend darum gebeten, einen neutralen Moderator einzusetzen, um die inhaltlichen und methodischen Fragen zu klären. Die DEGAM ist diese Forderung stets und ohne Begründung übergangen. Die „Moderation“ erfolgte durch eine Autorin des Leitlinienentwurfs. Es überrascht nicht, dass in dieser Rolle eine neutrale Moderation nicht stattfand. Auf unsere Kritikpunkte erhielten wir nur oberflächliche Antworten, oder unsere Anmerkungen wurden komplett übergangen. Das Autorenteam ist in der ersten Runde des Delphi-Prozesses zudem mit keinem Wort auf unsere Handlungsempfehlungen und kritischen Anmerkungen eingegangen. Wir mussten den Eindruck gewinnen, dass unsere Beteiligung nur pro forma erfolgen sollte.

Wir sind außerdem irritiert darüber, dass es offenbar nicht gelungen ist, die Expertise der Berliner Charité in der Überarbeitung umfassend nutzbar zu machen, an der intensiv zu ME/CFS geforscht wird.

Auch eine Intervention und Beschwerde beim Präsidium und der Ständigen Leitlinienkommission der DEGAM blieben erfolglos.

Wir haben uns nun an die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) gewendet, unter der die Leitlinie erscheint, um auf die methodischen, inhaltlichen und pro­ze­du­ralen Schwächen der Leitlinie Müdigkeit hinzuweisen, und dort Beschwerde eingelegt.

 

„Leitlinie Müdigkeit“ Nr. 053-002 hier abrufen (ab Seite 40)

Leitlinienreport hier abrufen (Eingaben der DG ME/CFS auf den Seiten 73–90)

Quellen

  1. http://www.virology.ws/2017/03/13/an-open-letter-to-psychological-medicine-about-recovery-and-the-pace-trial, abgerufen am 01.02.2018
  2. Institute of Medicine (2015) Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness. National Academies Press, Washington, DC
  3. https://www.cdc.gov/me-cfs/treatment/index.html, abgerufen am 03.01.2018
  4. https://www.nice.org.uk/guidance/cg53/resources/surveillance-report-2017-chronic-fatigue-syndromemyalgic-encephalomyelitis-or-encephalopathy-diagnosis-and-management-2007-nice-guideline-cg53-4602203537/chapter/Surveillance-decision#reason-for-the-decision, abgerufen am 11.11.2017
  5. http://bestpractice.bmj.com/topics/en-gb/277, abgerufen am 11.11.2017