Ein Screenshot vom Gutachten

Veröffentlichung des rechtsmedizinischen Berichts über Maeve Boothby O’Neill

Veröffentlichung des rechtsmedizinischen Berichts über Maeve Boothby O'Neill

Maeve Boothby O'Neill, eine 27-jährige an schwerer Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) erkrankte Britin, starb 2021 an den Folgen von ME/CFS und ärztlicher Fehlbehandlung. Ihr Leidensweg begann schon mit 13 Jahren, wie jedoch bei vielen ME/CFS-Patient*innen hat es mehrere Jahre gedauert, bis sie die richtige Diagnose erhielt – erst 2011 wurde bei ihr ME/CFS diagnostiziert, da war sie bereits 18 Jahre alt. Im Laufe der Zeit hat sich ihr Zustand weiter verschlechtert, bis sie schließlich 2019 bettlägerig wurde. Im Jahre 2021 verschlechterte sich ihr Zustand so weit, dass sie nicht mehr in der Lage war zu kauen und somit nicht mehr genügend Nahrung zu sich nehmen konnte. Aufgrund dessen wurde sie noch im selben Jahr dreimal ins Krankenhaus eingewiesen, jedoch erhielt sie während dieser Krankenhausaufenthalte keine angemessene Behandlung. Sie starb zu Hause in Exeter am 3. Oktober 2021 an Unterernährung als Folge von ME/CFS.

Der Vater von Boothby O'Neill ist der Journalist Sean O'Neill, der seit 20 Jahren für die britische Zeitung The Times schreibt. Er hat mehrere Zeitungsartikel über seine Tochter und ihre Krankheit verfasst. Kürzlich nahm er einen berührenden Podcast über seine Tochter auf. Darüber hinaus haben unter anderem die BBC sowie The Guardian über den Tod von Boothby O'Neill berichtet.

Umgehend nach ihrem Tod leiteten die Gerichtsmediziner*innen von Exeter eine Untersuchung ein. Eine öffentliche Anhörung fand im Juli und August 2024 unter Vorsitz der stellvertretenden Gerichtsmedizinerin Deborah Archer statt. Die zweiwöchige Untersuchung befasste sich primär mit den Fragen, welche Behandlungen Boothby O'Neill während ihrer Krankenhausaufenthalte erhielt und weshalb es zu Verzögerungen bei der Palliativversorgung kam. Der Anhörung befasste sich auch mit dem allgemeinen Mangel an Kenntnis und Verständnis über ME/CFS in der medizinischen Fachwelt. Die Gerichtsmedizinerin Archer kam zu dem Schluss, dass Boothby O'Neill „aufgrund einer schweren Myalgischen Enzephalomyelitis (ME)” gestorben sei.

Am 7. Oktober 2024 wurde der Bericht von Deborah Archer veröffentlicht. Er beinhaltet einen eindringlichen Appell an die Verantwortlichen*, eine angemessene Versorgung von ME/CFS-Patient*innen sicherzustellen: „Meiner Meinung nach müssen Maßnahmen ergriffen werden, um künftige [ME/CFS-]Todesfälle zu verhindern, und ich glaube, es steht in Ihrer Macht, solche Maßnahmen zu ergreifen.“ Der Bericht stellt fest, dass es in England Versorgung für Menschen mit schwerem ME/CFS – wie Boothby O'Neill – weder gab noch gibt. Aufgrund mangelnder Fachkenntnisse über ME/CFS war für Boothby O'Neill der Krankenhausaufenthalt nur schwer erträglich. Während der drei stationären Aufenthalte konnte man die Folgen ihrer schweren ME/CFS-Erkrankung nicht behandeln – alle Behandlungsversuche schlugen fehl. Zwar wurde Boothby O'Neill während des Krankenhausaufenthalts einmalig über eine Sonde ernährt, dies reichte jedoch nicht aus, um ihren Zustand zu verbessern. Sie starb zu Hause an den Folgen von schwerem ME/CFS.

Der Bericht weist die folgenden Problembereiche auf:

  1. In England existieren keine spezialisierten Krankenhäuser, Hospize oder andere medizinische Einrichtungen für Patient*innen mit schwerem ME/CFS. Die Krankenhäuser, in denen Boothby O'Neill behandelt wurde, hatten keinen öffentlichen Auftrag zur Behandlung von Boothby O'Neill oder anderen Patient*innen wie ihr.
  2. Es gibt keinerlei finanzielle Förderung für die Grundlagenforschung zu den Ursachen von ME/CFS und für die Entwicklung von Therapien.
  3. Die Ausbildung von Ärzt*innen zu ME/CFS und seiner Behandlung ist äußerst beschränkt – insbesondere im Hinblick auf schweres ME/CFS.
  4. Die von NICE** herausgegebenen ME/CFS-Leitlinien aus dem Jahr 2021 enthalten keine detaillierten Anweisungen, wie man eine schwere Form von ME/CFS behandeln soll und ob die Leitlinien zur Ernährungsunterstützung aus dem Jahr 2017 angepasst werden müssen.

Ähnliche Problematik auch in Deutschland

Auch in Deutschland sind ME/CFS-Erkrankte mit ähnlichen Herausforderungen wie in England konfrontiert. Die Versorgungslage ist vergleichbar dramatisch. Es existieren nur zwei Anlaufstellen für ME/CFS-Erkrankte, eine in Berlin, die allerdings nur Patient*innen aus Berlin und Brandenburg aufnimmt, und eine in München für Jugendliche und junge Erwachsene aus Bayern. Ausgewiesene Krankenhausbetten für ME/CFS gibt es bis heute nicht. Insbesondere stellt die Versorgung von schwerstbetroffenen Patient*innen auch in Deutschland immer noch eine große Herausforderung für Ärzt*innen dar. Deshalb hat die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS einen Fachartikel zur Versorgung von Patient*innen mit schwerem oder sehr schwerem ME/CFS ins Deutsche übersetzten lassen, der als Hilfestellung für Ärzt*innen dienen soll. Um eine flächendeckende Versorgung für Patient*innen einzurichten, ist es durch das gemeinsame Engagement der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland gelungen, ME/CFS und Long COVID in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom 24. November 2021 zu bringen. Darin wird die Schaffung eines deutschlandweiten Netzwerkes von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen vereinbart. Bisher wurde dieser Teil des Koalitionsvertrages nur indirekt über die Förderung von Versorgungsforschung durch das Bundesministerium für Gesundheit umgesetzt.

Die Unterfinanzierung der ME/CFS-Forschung ist ein weltweites Problem, siehe „Vernachlässigte und unterfinanzierte Forschung“. Die Folgen kann man direkt an dem Forschungsrückstand bezüglich ME/CFS sehen – demnach ist die Forschung zu ME/CFS gemessen an der Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen im Vergleich zu Krankheiten wie Multipler Sklerose um 40 Jahre im Rückstand. Wissenschaftliche Großprojekte, wie die Erforschung einer Krankheit und eventueller Therapien, sind üblicherweise über Jahrzehnte mit einem enormen finanziellen Aufwand verbunden und liegen in der Verantwortung der öffentlichen Hand – Notgedrungen haben Patient*innenorganisationen in Deutschland zum Teil die Finanzierung von Studien übernommen, beispielsweise durch das Forschungsprogramm der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS oder die Forschungsförderung der vor zwei Jahren gegründeten ME/CFS Research Foundation. Die Förderung der Nationalen Klinischen Studiengruppe (NKSG) zur Erforschung von Therapien für ME/CFS und Post-COVID-19-Syndrom durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung ist ein positiver Lichtblick, dennoch ist die ME/CFS-Forschungsförderung weiterhin der Schwere der Krankheit und der relativ hohen Anzahl von Patient*innen nicht angemessen und nicht ausreichend. (Zu den beiden letzten Punkten siehe auch: „Die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten [ist] oft niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatient*innen“, sowie „ME/CFS ist keine seltene Krankheit.“)

Die gleichen Defizite in der Ärzt*innenausbildung, wie sie im oben genannten Bericht beschrieben werden, sind auch in Deutschland festzustellen. Oft haben Ärzt*innen während ihres Studiums gar nicht oder nur am Rande von ME/CFS gehört, im schlimmsten Fall wird ME/CFS als psychische Krankheit klassifiziert oder es werden veraltete Behandlungsmethoden gelehrt. Auch in diesem Bereich versucht die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS Abhilfe zu leisten, indem sie regelmäßig Online-Fortbildungen organisiert und ein Informationsportal für Ärzt*innen vorhält.

Zwar sind die neuen ME/CFS-NICE** Leitlinien aus England ein großer Fortschritt, dennoch bemängelt Deborah Archer in ihrem Bericht, dass klare Anweisungen zum Umgang mit schwerstbetroffenen Patient*innen fehlen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat sich in den letzten Jahren intensiv dafür eingesetzt, dass die deutschen Leitlinien überholt werden und auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der biomedizinischen Forschung beruhen, dies ist zum Teil gelungen, dennoch erhalten sie weiterhin problematische Passagen, siehe dazu die Stellungnahmen zum Abschlussbericht Aktueller Kenntnisstand zu ME/CFS des IQWiG und zu der neuen Fassung der S3-Leitlinie Müdigkeit.

* Ministerium für Gesundheit und Soziales, Nationaler Gesundheitsdienst (NHS) England, Nationales Institut für Gesundheit und Klinische Exzellenz (NICE), Medizinischer Forschungsrat, Nationales Institut für Gesundheitsfürsorge und Forschung, Rat der medizinischen Fakultäten

** Nationales Institut für Gesundheit und Klinische Exzellenz (NICE)

Redaktion: mfr

Editor: dha, smü, amo