Die Orthostatische Intoleranz ist eine Form der Dysautonomie und bezeichnet die Unfähigkeit des Körpers, den Kreislauf an eine aufrechte Position (Orthostase) anzupassen.
Orthostatische Intoleranz
Orthostatische Intoleranz
Fehlregulation des Kreislaufs bei ME/CFS
Neben der Post-Exertionellen Malaise, dem Leitsymptom der Myalgischen Enzephalomyelitis/des Chronischen Fatigue Syndroms (ME/CFS), ist die Orthostatische Intoleranz (kurz OI) ein weiteres charakteristisches Symptom, unter dem viele ME/CFS-Erkrankte leiden (Carruthers et al., 2003; IOM-Report, S. 107).
Die Orthostatische Intoleranz ist eine Form der Dysautonomie und bezeichnet die Unfähigkeit des Körpers, den Kreislauf an eine aufrechte Position (Orthostase) anzupassen. Sie tritt oft im Stehen, aber auch im Sitzen auf und geht u. a. mit Schwäche, Schwindel, Benommenheit, Herzrasen, Herzklopfen, hohem oder niedrigem Blutdruck, Gleichgewichtsstörungen, Blässe und Atemnot einher. Typischerweise wird die Symptomatik schlimmer, je länger sich der Patient in aufrechter Position befindet, legt er sich wieder hin, verbessern sich die Symptome. Abhängig von der Ausprägung der Orthostatischen Intoleranz können ME/CFS-Betroffene nur für begrenzte Zeit aufrecht sitzen oder stehen. Zusätzlich zu den unmittelbaren Symptomen bei aufrechter Position kann Sitzen oder Stehen zeitversetzt eine Zustandsverschlechterung im Sinne des Leitsymptoms Post-Exertionelle Malaise auslösen. Die Symptomatik kann so schwer ausgeprägt sein, dass Betroffene zu einem weitgehenden Leben in der Liegendposition gezwungen werden (Sofa, Bett).
Orthostatische Intoleranz kann durch Messung des Blutdrucks, der Herzfrequenz und des zerebralen Blutflusses objektiviert werden. So spricht man bei einem Ansteigen der Herzfrequenz während 10-minütigem Stehen von mehr als 30 Schlägen pro Minute von einem Posturalen Orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS). Eine Orthostatische Hypotonie liegt vor, wenn der systolische Blutdruck um mindestens 20 mmHg oder der diastolische Blutdruck um mindestens 10 mmHg nach mind. 3 Minuten Stehen abfallen. Wichtig: auch ohne Auffälligkeiten in der kardiovaskulären Reaktion auf die Orthostase (Tachykardie, Hypotonie) können Patient*innen an Orthostatischer Intoleranz leiden. Diese kann über Fragebögen abgefragt werden.
- Orthostatischer Stress kann Post-Exertionelle Malaise auslösen: Noch 7 Tage nach einem Kipptischtest zeigt sich bei ME/CFS-Patient*innen eine messbare Verschlechterung der Symptome (Campen et al., 2021).
- Eingeschränktes Arbeitsgedächtnis nach orthostatischem Stress: Unmittelbar nach einem Kipptischtest erzielen ME/CFS-Betroffene weniger richtige Antworten bei einem n-back-Test (Indikator für die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses) als in Ruhe (Campen et al., 2020).
- OI korreliert mit reduziertem Blutfluss im Gehirn: Während einer Kipptischuntersuchung zeigt sich bei ME/CFS-Betroffenen mittels transkranieller Dopplersonographie ein signifikant reduzierter zerebraler Blutfluss gegenüber gesunden Probanden (Campen et al., 2020). Eine weitere Studie mit schwer betroffenen ME/CFS-Patient*innen zeigt im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe, dass sich bei ME/CFS bereits im Sitzen im Vergleich zum Liegen ein reduzierter zerebraler Blutfluss einstellt (Campen et al., 2020).
- ME/CFS-Betroffene zeigen unter Orthostase-Bedingung häufiger eine Hypokapnie (verringerter Kohlenstoffdioxidpartialdruck im arteriellen Blut) (Natelson et al., 2022).
- OI ist NICHT auf Dekonditionierung zurückzuführen: Unabhängig von den VO2max%-Werten bei kardiopulmonologischer Testung (Indikator für Dekonditionierung) zeigt sich bei ME/CFS-Betroffenen ein unnormal hoher Abfall des zerebralen Blutflusses während einer Kipptischuntersuchung (Campen et al., 2021).
Mehrere Testungen bieten sich zur Objektivierung der Orthostatischen Intoleranz an: ein Schellong-Test, der NASA-10min-Lean-Test und eine Kipptisch-Untersuchung. Der Schellong-Test und der NASA-10min-Lean-Test bieten sich für die niedergelassene Diagnostik an, da sie mit einfachsten Mitteln (Blutdruckmanschette, manuelle Pulsmessung) durchzuführen sind. Dabei sollte die Orthostase mindestens 10 Minuten andauern, damit Veränderungen zuverlässig gemessen werden können (IOM-Report, S. 111). Verschiedene Parameter können während der orthostatischen Testung ermittelt werden, dazu zählen u. a. Herzfrequenz, Blutdruck und nach technischer Möglichkeit der zerebrale Blutfluss.
Beim Schellong-Test (Schellong I) liegt der/die Patient*in zunächst auf einer Untersuchungsliege und bleibt hier etwa 5 bis 10 Minuten ruhig liegen. Während dieser Zeit werden jede Minute der Puls und der Blutdruck gemessen. Danach fordert man den Patienten auf, schnell aufzustehen. Es folgt eine Stehbelastung von etwa 5 bis 10 Minuten, in der ebenfalls minütlich der Puls und Blutdruck gemessen werden.
Beim NASA-10min-Lean-Test liegt der/die Patient*in zunächst 5 bis 10 Minuten auf einer Untersuchungsliege. Anschließend werden zweimal Puls und Blutdruck gemessen, um den Ruhepuls zu bestimmen. Dann lehnt sich der/die Patient*in stehend mit den Schultern an die Wand, die Füße sind ca. 15 Zentimeter von der Wand entfernt. 10 Minuten lang werden nun minütlich Blutdruck und Puls gemessen.
Bei einem Ansteigen der Herzfrequenz während des 10-minütigen Stehens von mehr als 30 Schlägen pro Minute liegt ein Posturales Orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) vor. POTS ist eine häufige Komorbidität von ME/CFS und wird bei ca. 25 % der ME/CFS-Betroffenen festgestellt (Campen et al., 2018). Eine orthostatische Hypotonie (OH) liegt vor bei einem Blutdruckabfall von > 20 mmHg systolisch oder 10 mmHg diastolisch.
Darüber hinaus findet sich auch bei ME/CFS-Kranken, die die Schwelle zu POTS oder OH nicht erreichen, bei orthostatischer Testung bzw. längerem Stehen oft Schwindel, Benommenheit, Tachykardie und eine verlangsamte Kreislaufreaktion auf Belastung (Garner et al., 2019; Nelson et al., 2019). Auch bei solchen ME/CFS-Patient*innen mit normaler Herzrate und normalem Blutdruck findet sich während orthostatischer Testung bei einem Großteil (82 %) ein abnormal hoher Abfall des zerebralen Blutflusses. Bemerkenswert ist, dass selbst Patient*innen, die keine orthostatischen Symptome angeben, eine verstärkte Reduktion der zerebralen Durchblutung unter Orthostase-Bedingungen aufweisen können. Insgesamt zeigt sich eine hohe Korrelation von berichteten orthostatischen Symptomen und gemessener Reduktion des zerebralen Blutflusses während einer Kipptischuntersuchung (Campen et al., 2020).
Speziell für ME/CFS validierte Fragebögen zur Orthostatischen Intoleranz fehlen bislang. In der ME/CFS-Forschung wird für Dysautonomie (die auch OI beinhaltet) u. a. der COMPASS 31-Fragebogen verwendet.
Pathomechanistische Erklärungsansätze: autonome Fehlregulation und endotheliale Dysfunktion
Wenn der Körper sich in aufrechter Position befindet, arbeitet das Herz-Kreislauf-System gegen die Schwerkraft an, damit genug Blut ins Gehirn gelangt. Hierbei spielen neben dem Herzen auch die Blutgefäße eine entscheidende Rolle. Für eine funktionierende Blutzirkulation ist die Feinabstimmung von Gefäßerweiterung sowie Gefäßverengung wichtig. Verschiedene Rezeptoren des autonomen Nervensystems sind daran beteiligt, dazu zählen u. a. ß-adrenerge Rezeptoren und muskarinerge Acetylcholin-Rezeptoren.
Bei ME/CFS ist diese Regulation der Gefäßweite gestört (endotheliale Dysfunktion) (Newton et al., 2011; Scherbakov et al., 2020; Sørland et al., 2021). Wirth und Scheibenbogen (2020) beschreiben, wie die bei ME/CFS-Patient*innen festgestellten ß-adrenergen und muskarinergen Rezeptor-Autoantikörper durch Aktivierung und Desensitivierung insbesondere des ß2-Adrenorezeptors zu einem Ungleichgewicht in der Gefäßregulation führen könnten, sodass gefäßverengende Rezeptoren dominieren und sich eine endotheliale Dysfunktion einstellt (siehe auch Wirth, Scheibenbogen und Paul, 2021). Diese Fehlregulation der Blutgefäße kann die verminderte Blutzirkulation erklären, aus der die Symptome der Orthostatischen Intoleranz aber auch die Post-Exertionelle Malaise (durch Minderversorgung der Muskulatur und der Organe bei Aktivität) bei ME/CFS resultieren könnten.
Außerdem weisen ME/CFS-Betroffene ein reduziertes Blutvolumen (Hypovolämie) auf (Campen et al., 2018). Der verminderte venöse Rückstrom zum Herzen begünstigt die Kreislaufdysregulation zusätzlich.
Die gestörte Gefäßweitenregulation der innersten Schicht der kleinen Blutgefäße, die „endotheliale Dysfunktion (ED)“ korreliert bei ME/CFS mit der Krankheitsschwere und findet sich auch bei anderen Erkrankungen wie Diabetes Mellitus, Alzheimer und Schlaganfall. Wahrscheinlich ist die ED generell bei Erkrankungen mit autoimmuner Komponente und chronischen Entzündungen häufig zu finden (Scherbakov et al., 2020).
Nicht zuletzt führt Hyperventilation – ein bei ME/CFS häufig beobachtetes Phänomen – zum Abatmen von C02, in der Medizin „Hypokapnie“ genannt, was den zerebralen Blutfluss verringert (Campen et al., 2020).
Implikationen für das Pacing
Für ME/CFS-Betroffene ist es wichtig, sich orthostatischer Belastung nur in dem Maße auszusetzen, in dem keine Post-Exertionelle Malaise an den darauffolgenden Tagen ausgelöst wird. Es kann je nach Schweregrad im Sinne des Pacings hilfreich sein, so viele Tätigkeiten wie möglich im Liegen auszuführen. Weniger orthostatischer Stress kann gleichzeitig mehr Kapazität für kognitive oder andere Tätigkeiten bedeuten, ohne die individuelle Belastungsgrenze zu überschreiten.
In einer kleinen randomisierten Studie zeigte sich, dass Kompressionsstrümpfe den Abfall des zerebralen Blutflusses und des Herzzeitvolumens bei orthostatischer Testung abmildern können (Campen et al., 2021). Ebenfalls als hilfreich haben sich Kochsalzinfusionen sowie das Trinken einer rehydrierenden salz- und zuckerhaltigen Lösung erwiesen (Medow et al., 2019).
Auch bei Arztbesuchen und in Ambulanzen sollte darauf geachtet werden, dass orthostatischer Stress bei ME/CFS-Betroffenen die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und unmittelbar sowie zeitversetzt eine Zustandsverschlechterung auslösen kann. Nach Möglichkeit sollte die Zeit im Stehen und Sitzen verringert werden – beispielsweise kann für die Wartezeit und auch für das Arztgespräch eine Liege genutzt werden. Zusätzlich kann die bestmögliche Abschirmung von Sinnesreizen (Licht, Geräusche) eine große Entlastung für Patient*innen bedeuten. Ist die Orthostatische Intoleranz schwer ausgeprägt, sind Betroffene ggf. auf einen Liegendtransport angewiesen, um zum Arzt zu kommen.
Hausärzt*innen können vorsorglich ein Attest ausstellen, damit Patient*innen auf diese Notwendigkeit in Notfallsituationen hinweisen können. Die Formulierung eines Attests könnte z. B. so aussehen:
„Ich bescheinige meiner Patien*tin [Name, Geburtsdatum] aufgrund von [Erkrankung] an einer Orthostatischen Intoleranz zu leiden. Zur Vermeidung einer dauerhaften gesundheitlichen Verschlechterung ist die Einhaltung einer liegenden Position zu gewährleisten.“