Pathophysiologie

Zahlreiche Auffälligkeiten belegen organische Grundlage von ME/CFS

Der Krankheitsmechanismus hinter ME/CFS ist zwar noch nicht abschließend aufgeklärt, allerdings wurden in den letzten drei Jahrzehnten Forschung viele pathophysiologische Auffälligkeiten für die Krankheit festgestellt, die z. T. mehrfach bestätigt werden konnten.

Dazu zählen Störungen im Gefäßsystem, dem Energiestoffwechsel, dem Autonomen Nervensystem (ANS) sowie dem Immunsystem. Zusammengenommen können diese Befunde die multisystemischen und schwerwiegenden ME/CFS-Symptome gut erklären.

Abb. 1: Reduzierter Zerebraler Blutfluss. Bei ME/CFS findet sich im Vergleich mit gesunden Personen ein signifikant verminderter Blutfluss im Gehirn. In einer Positronen-Emissions-Tomographie (PET) - Studie von Kuratsune et al. (2002) ist der Unterschied visuell deutlich zu erkennen: Blaue und grüne Flächen, die einen geringen Blutfluss markieren, sind bei ME/CFS-Patient*innen vermehrt vorhanden, während bei gesunden Kontrollen vermehrt rote und weiße Flächen, die einen starken Blutfluss markieren, zu sehen sind. Abbildung entnommen aus Kuratsune et al. (2002), mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Hirohiko Kuratsune.

Vaskuläre Dysfunktion

Einer der am häufigsten reproduzierten und bereits in den 90er-Jahren vielfach belegten Befunde bei ME/CFS ist ein verminderter Blutfluss im Gehirn (siehe Abb. 1). Costa et al. konnten 1995 beispielsweise bei ME/CFS einen gegenüber gesunden Kontrollen und Depressionserkrankten signifikant reduzierten Blutfluss im Hirnstamm nachweisen.

Van Campen et al. (2020) konnten in einer großangelegten Studie mit über 400 ME/CFS-Patient*innen zeigen, dass der zerebrale Blutfluss in aufrechter versus liegender Position bei ME/CFS gegenüber gesunden Kontrollen im Durchschnitt um mehr als das Dreifache absinkt und dass der Abfall des zerebralen Blutflusses mit dem Symptom der Orthostatischen Intoleranz korreliert.

Abb. 2: Endotheliale Dysfunktion. Die Grafik zeigt ein verengtes Blutgefäß (links) und ein erweitertes Blutgefäß (rechts). Ein häufig gezeigter Befund bei ME/CFS ist eine eingeschränkte Gefäßerweiterung (Endotheliale Dysfunktion). Infolgedessen kommt es zu Fehlregulationen der Blutzirkulation und Minderversorgung der Organe und Muskulatur. Bei ME/CFS konnte insbesondere eine verminderte Durchblutung des Gehirns in vielen Studien wiederholt festgestellt werden. Abbildung entnommen und adaptiert aus Wikimedia (gemeinfreie Lizenz).

Ein erstmals 2011 von Newton et al. für ME/CFS gezeigter Befund, der seitdem mehrfach repliziert werden konnte, ist die Endotheliale Dysfunktion: eine eingeschränkte Erweiterung der Blutgefäße (siehe Abb. 2). Zur Steuerung des Blutflusses werden Blutgefäße geweitet bzw. verengt. Wenn diese Feinabstimmung beeinträchtigt ist, kann dies Störungen des Blutflusses mitbedingen. Scherbakov et al. (2020) belegen einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung der Endothelialen Dysfunktion und der ME/CFS-Krankheitsschwere.

Eine In-vitro-Studie („im Reagenzglas“) von Bertinat et al. (2022) zeigt, dass Blutplasma von ME/CFS-Erkrankten die Stickstoffmonoxid-Produktion (NO) von Endothelzellen einschränkt. Stickstoffmonoxid ist u. a. wichtig für die Gefäßerweiterung durch glatte Muskelzellen und hat eine hemmende Wirkung auf Blutplättchen. Eine Überaktivierung von Blutplättchen sowie vermehrte Mikrogerinnsel konnte eine Studie bei ME/CFS von Nunes et al. (2022) feststellen. Außerdem zeigen Flaskamp et al. (2022) bei ME/CFS erhöhte Level von Autoantikörpern, die an Endothelzellen binden.

Schon in den 80ern wiesen Studien wie die von Simpson (1989) auf eine veränderte Form von roten Blutkörperchen bei ME/CFS hin. Saha et al. (2019) konnten zeigen, dass die roten Blutkörperchen von ME/CFS-Erkrankten sich in kleinsten Kanälen um den Faktor 7 weniger stark verformen und zudem langsamer fließen als die von gesunden Kontrollen. Im menschlichen Körper sind kleinste Blutgefäße häufig im Durchmesser kleiner als rote Blutkörperchen, sodass deren Verformbarkeit wichtig für eine funktionierende Mikrozirkulation des Blutes ist (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Eingeschränkte Verformbarkeit roter Blutkörperchen. Die Grafik zeigt, wie rote Blutkörperchen ihre Form anpassen, um durch Engstellen in Blutgefäßen zu kommen. Kleinste Blutgefäße sind im Durchmesser kleiner als die roten Blutkörperchen, sodass eine funktionierende Verformbarkeit wichtig für den Blutfluss ist, wie auch Ebrahimi und Bagchi (2022) zeigen. Abbildung entnommen und adaptiert aus Vahidkhah et al. (2016).

Störung des Energiestoffwechsels

Aus einer gestörten Zirkulation des Blutes resultiert die Annahme, dass dadurch die Sauerstoffversorgung des Gewebes bei ME/CFS reduziert sein könnte. McCully und Natelson (1999) konnten zeigen, dass sowohl nach Sportübungen als auch nach künstlich durch eine Blutdruckmanschette herbeigeführter Ischämie (blockierte Durchblutung) die Sauerstoffsättigung in der Beinmuskulatur sich bei ME/CFS-Betroffenen langsamer erholt als bei gesunden Kontrollen. Eine verminderte Sauerstoffsättigung im Gehirn konnten Tanaka et al. (2002) bei ME/CFS-Betroffenen in stehender Position und Neary et al. (2008) während und nach maximalem Training feststellen. Joseph et al. (2021) konnten in einer großen Studie mit einem invasiven kardiopulmonologischen Belastungstest bei ME/CFS eine eingeschränkte systemische Sauerstoffversorgung feststellen.

Sauerstoff wird im Körper für die aerobe Energiegewinnung benötigt. Bei einem Mangel an Sauerstoff schalten Körperzellen auf die anaerobe Energiegewinnung um, die allerdings um ein Vielfaches ineffizienter ist und bei der Laktat entsteht. Ein erhöhter Laktatspiegel im Liquor (das zentrale Nervensystem umgebende Nervenwasser) konnte bei ME/CFS in zahlreiche Studien belegt werden. Matthew et al. (2008) fanden beispielsweise bei ME/CFS-Betroffenen 3,5-fach erhöhte ventrikuläre Laktatspiegel gegenüber gesunden Kontrollen sowie 3-fach erhöhte ventrikuläre Laktatspiegel gegenüber Patient*innen mit Generalisierter Angststörung.

Lien et al. (2019) zeigen, dass ME/CFS-Erkrankte bei der gleichen Leistung während eines kardiopulmonologischen Belastungstests (CPET) höhere Laktatspiegel aufweisen. Der Unterschied zu gesunden Kontrollen verstärkt sich bei einem wiederholten CPET nach 24 Stunden. Die Meta-Analyse von Franklin und Graham (2022) belegt bei ME/CFS einen starken Einbruch der anaeroben Schwelle bei wiederholtem CPET, den man bei gesunden Kontrollen nicht beobachtet (große Effektstärke von d = -0,96). Diese massive Leistungsverschlechterung objektiviert das Kardinalsymptom von ME/CFS: die Post-Exertionelle Malaise.

Für die wichtigste Energiequelle im menschlichen Körper, die Glukose (Blutzucker), zeigen zwei Studien mittels Positronen-Emissions-Tomographie bei einem Teil der ME/CFS-Betroffenen eine signifikant geringere Aufnahme der Glukose im Gehirn, ein weiteres Indiz für einen eingeschränkten Energiestoffwechsel bei ME/CFS (Tirelli et al., 1998; Siessmeier et al., 2003).

Gestörte adrenerge und acetylcholinerge Signalübertragung

Ein Großteil der Funktionen menschlicher Körperorgane wird unbewusst über das Autonome Nervensystem (ANS) gesteuert. Zur Aktivierung und Hemmung von Organen werden Signale mittels Neurotransmitter über den synaptischen Spalt (Verbindung zwischen Nervenzellen und Sinnes- oder Muskelzellen) zum angesteuerten Organ transportiert. Zentrale Neurotransmitter des ANS stellen Noradrenalin und Acetylcholin dar, die bei der Signalübertragung an Adrenorezeptoren bzw. Acetylcholinrezeptoren binden. Wichtige Unterklassen dieser Rezeptortypen bilden die ß-adrenergen Rezeptoren (ß-AdR) sowie die muskarinergen Acetylcholinrezeptoren (mAChR).

Für den muskarinergen Acetylcholinrezeptor belegt eine Reihe an Studien eine gestörte Funktion bei ME/CFS-Betroffenen. So zeigen Experimente, bei denen Acetylcholin (ACh) Patient*innen durch die Haut verabreicht wurde, dass die durch ACh hervorgerufene verstärkte Durchblutung des Gewebes bei ME/CFS länger anhält als bei anderen Erkrankungen oder gesunden Kontrollen (Spence et al., 2004).

Eine japanische Studie belegt mittels Positronen-Emissions-Tomographie außerdem eine geringere Bindung von Neurotransmittern an den mAChR im Gehirn bei denjenigen ME/CFS-Patient*innen, die erhöhte Titer von Autoantikörpern gegen den m1-AChR aufweisen (Yamamoto et al., 2012).

Adrenorezeptoren befinden sich neben dem ANS u. a. auch auf Blut- und Immunzellen. Kavelaars et al. (2000) konnten zeigen, dass an den ß2-Adrenorezeptor bindende Agonisten bei ME/CFS weniger stark die Zytokinproduktion von Monozyten beeinflussen als bei gesunden Kontrollen. In der Studie von Hartwig et al. (2020) fand sich bei ME/CFS-Betroffenen mit erhöhten Autoantikörper-Titern gegen den ß2-AdR ein geringerer Einfluss des Immunglobulin G (eine Unterklasse von Antikörpern) auf die Zytokinproduktion von Monozyten als bei gesunden Kontrollen oder ME/CFS-Betroffenen mit normalen Autoantikörper-Titern.

Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren

Einige Studien messen bei einem Teil der ME/CFS-Betroffenen erhöhte Titer von Autoantikörpern (AAK) gegen verschiedene G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPCR), die u. a. an der Blutflussregulation beteiligt sind. Freitag et al. (2021) zeigen einen deutlichen Zusammenhang der Höhe der Autoantikörper-Level mit der ME/CFS-Symptomschwere.

Ein Großteil dieser Studien verwendet die ELISA-Technik (Enzyme-linked Immunosorbent Assay) zur Ermittlung der GPCR-AAK-Titer. Die ELISA-Technik misst die Höhe von Antikörper-Leveln, nicht aber ob diese auch funktionell aktiv sind und die Funktion von GPC-Rezeptoren stören. Beim Posturalen Tachykardiesyndrom (POTS), das bei etwa 25 % der ME/CFS-Erkrankten vorliegt, konnte eine aktuelle Studie mit der ELISA-Technik keine erhöhten GPCR-AAK-Level gegenüber der Kontrollgruppe feststellen (Hall et al., 2022).

Studien mit funktionellen Bioassays hatten in der Vergangenheit jedoch deutliche Unterschiede in der Häufigkeit positiver GPCR-AAK-Befunde zwischen POTS-Betroffenen und Kontrollpersonen gefunden und damit eine relevante Rolle der Autoantikörper am Krankheitsmechanismus nahegelegt. Die Autor*innen schlussfolgern daher, dass die ELISA-Technik sich zur Diagnostik der GPCR-AAK nicht eigne.

Da bei funktionellen Assays jedoch die Standardisierbarkeit fehlt und die ELISA-Methode eine geringe Spezifität aufweist, will die von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen geleitete Arbeitsgruppe an der Charité Berlin genauere diagnostische Tests zum Nachweis von GPCR-AAK entwickeln. Eine Beschreibung des Forschungsprojektes findet sich hier.

Replikationen bei Long-COVID bestätigen ME/CFS-Befunde

In wenigen Jahren Long-COVID-Forschung konnten viele der von ME/CFS bekannten Befunde repliziert werden. Dazu zählen insbesondere der verminderte zerebrale Blutfluss, die Endotheliale Dysfunktion, GPCR-Autoantikörper und ein eingeschränkter Energiestoffwechsel im Gehirn (siehe Tabelle 1: Replizierte Befunde bei ME/CFS und Long COVID).

Tabelle 1: Replizierte Befunde bei ME/CFS und Long COVID. Die Tabelle zeigt eine Auswahl von in der ME/CFS-Forschung bekannten Auffälligkeiten, die bei Long COVID reproduziert werden konnten. Im PDF-Format (Hyperlinks anklicken für die deutsche oder englische Version) können die einzelnen Studien per Direktlink abgerufen werden.

Fazit: Klare Evidenz für organische Auffälligkeiten

Die wissenschaftliche Literatur belegt für ME/CFS zahlreiche physiologische Auffälligkeiten, die z. T. vielfach repliziert wurden und zusammengenommen ein erstes kohärentes Bild der Erkrankung ergeben, auch wenn die endgültige kausale Pathophysiologie weiterer Klärung bedarf.

ME/CFS tritt in der Mehrheit der Fälle nach Infektionskrankheiten auf und beinhaltet Störungen der Blutflussregulation, Störungen der Signalübertragung des Autonomen Nervensystems sowie Störungen des Energiestoffwechsels. Außerdem gibt es deutliche Hinweise auf Autoantikörper, die bei ME/CFS die Funktion wichtiger GPC-Rezeptoren stören.

Ausblick: Wie die Erforschung diagnostischer Biomarker gelingen kann

Ein großes Vorurteil gegenüber ME/CFS ist die angeblich inkonsistente Studienlage zur Pathophysiologie. Viele Inkonsistenzen lassen sich allerdings durch zu kleine Stichproben, dadurch fehlende statistische Power sowie unterschiedliche verwendete Messmethoden erklären. Beispielsweise findet sich in 5 von 6 Studien ein erhöhtes ventrikuläres Laktatlevel bei ME/CFS-Patient*innen im Vergleich zur Kontrollgruppe. In der Studie von Mueller et al. (2019) war der Unterschied trotz doppelt so hoher Laktatlevel bei den ME/CFS-Patient*innen nicht signifikant, die Studienautor*innen räumen allerdings selbst eine zu geringe statistische Power wegen zu kleiner Stichprobe als möglichen Grund ein.

Für die Entwicklung diagnostischer Biomarker und die Reproduktion physiologischer Auffälligkeiten ist es daher wichtig, zukünftige ME/CFS-Forschung angemessen zu finanzieren, um ausreichend große Stichproben sowie die Verwendung modernster Messmethoden zu ermöglichen. Zudem sollten diagnostische Verfahren und verwendete Diagnosekriterien international vereinheitlichet werden, um einheitliche und vergleichbare Kohorten zu schaffen. Zugleich sollte die Interpretation und Bewertung von Studienergebnissen auch immer im Kontext der schon publizierten Literatur stattfinden. Dabei können auch Ergebnisse aus Studien von eng verwandten Krankheitsbildern wie POTS oder Long COVID wichtige Hinweise zur Einordnung liefern.

Weiterführende Informationen

  • Forschungsprogramm der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS → Link
  • Open-Access-Förderung durch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS → Link
  • Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Pacing als Strategie zum Krankheitsmanagement bei ME/CFS → Link
  • Ärzteportal der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS → Link