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Ergebnisse einer paneuropäischen Umfrage zu ME/CFS

Ergebnisse einer paneuropäischen Umfrage zu ME/CFS

11.000 Teilnehmende aus 44 Ländern

Die Ergebnisse einer durch die Europäische ME-Allianz (EMEA) durchgeführten Umfrage unter mehr als 11.000 ME/CFS-Betroffenen aus 44 Ländern wurden kürzlich in einem ausführlichen Bericht publiziert. Die Umfrage war zwischen Mai und August 2021 online durchgeführt worden und hat in 15 verschiedenen Sprachen Erkrankte zu ihren Symptomen, ihrer Krankheitsschwere, dem Krankheitsverlauf und krankheitsbeeinflussenden Faktoren wie der medizinischen Versorgung und angewandten Therapien befragt.

Stichprobe und Vorgehen

Teilnehmen konnten sowohl Betroffene mit ME/CFS-Diagnose als auch solche, die sich noch im diagnostischen Prozess befanden. Die Stichprobengröße schwankte stark zwischen den verschiedenen Ländern. In zehn Ländern war die Anzahl der Teilnehmenden vergleichsweise groß (> 400): Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Spanien, Schweden, die Niederlande, Großbritannien (und die USA, da der Fragebogen auf Englisch auch international beworben wurde). In diesen Ländern gab es vergleichsweise aktive Patient*innen-Organisationen, die die Rekrutierung übernahmen. Die geografische Ungleichverteilung der Teilnahmen könnte auch damit zusammenhängen, dass die Situation der Betroffenen in süd- und osteuropäischen Ländern noch prekärer ist als in nord- und westeuropäischen Ländern. Beispielsweise hatten 97 % der Teilnehmenden aus Großbritannien eine ME/CFS-Diagnose, während in Kroatien nur 32 % eine Diagnose erhalten hatten. Auch die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnose schwankte stark (UK, Irland: 5 Jahre, Kroatien: 12 Jahre). Auf der Länderebene gab es einen Zusammenhang zwischen längerer Zeit bis zur Diagnose und einem progredienten Verlauf der ME/CFS-Symptomatik, also einer zunehmenden Schwere der Erkrankung.

Zentrale Ergebnisse

In Bezug auf die Hauptsymptome von ME/CFS empfanden die Betroffenen die größte Einschränkung durch PEM und Sensitivität gegenüber Licht, Gerüchen und Geräuschen. Ein Viertel der Befragten gab milde Symptome an (nach ICC-Kriterien bedeutet dies eine Verschlechterung des Zustands um mind. 50 % im Vergleich zu vor der Erkrankung). 54 % hatten moderate Symptome (hauptsächlich ans Haus gebunden) und 16 % schwere Symptome (hauptsächlich bettlägerig). Fast die Hälfte (46 %) der Befragten berichtet über einen progredienten Verlauf. Nur 7 % berichteten eine Verbesserung im Zeitverlauf.

Ein weiteres zentrales Ergebnis betrifft die Versorgungssituation der Betroffenen. Da die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden moderate bis starke ME/CFS-Symptome hatte, waren sie auf medizinische, staatliche und private Unterstützung angewiesen. 94 % der Befragten hatten wegen ME/CFS Kontakt mit medizinischem Personal gesucht. Jedoch gaben drei Viertel (74 %) an, kaum oder gar keine medizinische Versorgung zu erhalten, während nur 12 % eine gute oder sehr gute Versorgungssituation berichteten. Auch hier gab es große Unterschiede zwischen den Ländern: Während in Norwegen 65 % der Befragten angaben, keine medizinische Unterstützung zu erhalten, waren es in Österreich 91 %. Eine frühe Diagnose ging mit einer besseren Prognose einher, andersherum war eine verspätete Diagnose (3–10 Jahre nach Erkrankung) ein Risikofaktor für eine schwerere Erkrankung. Symptommanagement und Pacing verbesserten die Prognose.

Sozialleistungen (z. B. Kinderbetreuung, Sozialarbeit) wurden in allen Ländern als unzureichend bewertet, in keinem Land gaben mehr als 10 % der Befragten an, gute Unterstützung durch Sozialleistungen zu erhalten. Auch am Arbeitsplatz und in Schulen fehlte in allen Ländern Unterstützung. Im privaten Bereich war die Zufriedenheit höher: 60 % berichten über gute Unterstützung durch Familienmitglieder. Unterstützung von Familie, Freunden und anderen Betroffenen half den Betroffenen, innerhalb ihrer Energiegrenzen zu bleiben und PEM zu vermeiden. Insgesamt wurde Pacing als hilfreichste Strategie im Umgang mit der Erkrankung angesehen. Jedoch empfanden Betroffene es häufig als herausfordernd angesichts familiärer, finanzieller und weiterer Verpflichtungen, erfolgreich zu pacen und Crashs zu vermeiden. Aktivierungstherapie (GET) und kognitiv-behaviorale Therapie (CBT) zur Behandlung/„Heilung“ von ME/CFS wurde von drei Viertel der Befragten als schädlich erlebt und nur von 5 % als hilfreich, während 38 % CBT als unterstützende (nicht heilende) Maßnahme hilfreich fanden.

Zusammenfassend zeigt die Befragung über 44 europäische Länder hinweg, dass ME/CFS-Betroffene stark eingeschränkt und unterversorgt sind. Es zeigten sich im Ländervergleich große Parallelen hinsichtlich der Schwere der Erkrankung, demografischen Merkmalen und Faktoren mit positivem Zusammenhang zum Krankheitsverlauf (Coping, Pacing, soziale Unterstützung durch Familie, Freunde und andere Betroffene). Die in ganz Europa festgestellte fehlende Unterstützung im medizinischen und sozialen Bereich muss durch Unterstützung im privaten Umfeld kompensiert werden, was bei vielen Betroffenen nicht in ausreichendem Maße möglich ist. Die Autor*innen richten einen Appell an europäische Regierungen, dass ME/CFS als schwere chronische Erkrankung anerkannt werden muss und dass Betroffene mehr medizinische Versorgung, finanzielle Unterstützung und Sozialleistungen erhalten müssen. Die Versorgungssituation unterscheidet sich zwischen europäischen Ländern mit der höchsten Zufriedenheit von Teilnehmenden aus nordeuropäischen Ländern (Schweden, Norwegen, Island). Die Studie zeigt auf, dass die verschiedenen Herangehensweisen unterschiedlicher Regierungen den Verlauf und die Prognose der Erkrankung mitbestimmen können. Die Autor*innen diskutieren, dass das falsche, jedoch weiterhin weit verbreitete Verständnis von ME/CFS als psychosomatische Erkrankung wahrscheinlich einen großen Anteil an der prekären Situation der Betroffenen hat. Das biopsychosoziale Modell (BPS) von ME/CFS schreibt den Betroffenen die Verantwortung für ihre Erkrankung zu, was zu einem Mangel an Empathie von medizinischen und staatlichen Akteuren beitragen könnte. Basierend auf dem BPS-Modell, welches mehr Aktivität zur Überwindung von dysfunktionalen Krankheitsüberzeugungen propagiert, werden Hilfsangebote und Sozialleistungen als hinderlich für die Betroffenen angesehen. Als Konsequenz werden die Betroffenen mit ihren Symptomen alleingelassen, was wiederum Stress erzeugt und Pacing erschwert.

Limitationen

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Rekrutierung der Teilnehmenden über Social Media stattfand und (sehr) schwer Betroffene ebenso wie undiagnostizierte Betroffene potenziell unterrepräsentiert sind. Zudem sind Betroffene in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark vernetzt, sodass es je nach Land große Unterschiede in der Anzahl der Teilnahmen gibt.

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hatte ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen und bedankt sich bei allen Teilnehmenden.

Hier geht es zu den Veröffentlichungen:

Redaktion: lfr, mth, jhe