Screenshot der 1. Seite der NICE-Leitlinie

Neue britische ME/CFS-Leitlinie

Sieg für die Wissenschaft – neue britische ME/CFS-Leitlinie

Nach dreijähriger Prüfung der Evidenz Paradigmenwechsel für die Behandlung und Erforschung von ME/CFS

Die weltweit mit Spannung erwartete neue britische Leitlinie zu ME/CFS wurde am 29. Oktober vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE) veröffentlicht.

Die Leitlinie mit dem Titel „Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: diagnosis and management“ umfasst 87 Seiten. Sie wurde über 3 Jahre lang von einem Panel aus 15 Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen und weiteren Fachleuten sowie 5 Patientenvertreter*innen, von Grund auf neu erarbeitet. Zudem gibt es Tausende Seiten begleitende Materialien, wie u. a. ein umfassendes Review der gesamten Evidenz. Die systematische Literaturrecherche (der Goldstandard) wurde von einem zusätzlichen Team aus Expert*innen von NICE durchgeführt und hat über 20.000 Studien erfasst, davon ca. 2000 geprüft und ca. 150 im Review inkludiert. Die neue Leitlinie ersetzt die stark veraltete – und von Anfang an wissenschaftlicher Kritik ausgesetzte – Vorgängerversion aus dem Jahr 2007.

Relevanz für Deutschland

Die britische NICE-Leitlinie zu ME/CFS wird international von Gesundheitsbehörden wahrgenommen und beeinflusst offizielle Empfehlungen. In Deutschland verweisen beispielsweise seit Jahren die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und das Robert Koch-Institut hinsichtlich ME/CFS auf NICE. Die neue Leitlinie wirkt sich daher potenziell auch auf die Situation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland aus.

Wir fassen wichtige Aussagen der neuen Leitlinie in einem Überblick zusammen.

 

Allgemeines

Die britische Gesundheitsbehörde NICE nutzt nun die Bezeichnung ME/CFS.

Ärzt*innen werden darauf hingewiesen, dass Betroffene bisher im Gesundheitssystem und darüber hinaus oft Unglauben, Vorurteile und Stigma erfahren haben. Sie sollen berücksichtigen „welche Auswirkungen dies auf ein Kind, einen jungen Menschen oder einen Erwachsenen mit ME/CFS haben kann“.

Das Leitsymptom Post-Exertional Malaise steht im Mittelpunkt.

Die Leitlinie bedeutet eine explizite Abkehr von biopsychosozialen Erklärungsmodellen und aktivierenden Therapien, für die keine Evidenz vorliegt und die potenziell den Erkrankten schaden. Stattdessen wird Pacing, also das strikte Einhalten der Energiegrenzen, empfohlen.

 

Diagnose

Die Leitlinie orientiert sich an den Kriterien des amerikanischen Institute of Medicine (IOM) aus 2015. Das IOM hatte in einer umfassenden Literaturanalyse 9.000 Veröffentlichungen ausgewertet und aus den Erkenntnissen Diagnosekriterien entwickelt. Für eine Diagnose müssen laut der Leitlinie folgende Kernsymptome dauerhaft anhalten und die Fähigkeit, sich an beruflichen, schulischen, sozialen oder persönlichen Aktivitäten zu beteiligen, im Vergleich zu vor der Erkrankung, erheblich einschränken: beeinträchtigende Fatigue, Post-Exertional Malaise (die Verschlimmerung aller Symptome nach Aktivität), nicht erholsamer Schlaf oder Schlafstörungen und kognitive Probleme („Brain Fog“).

Zudem werden weitere wichtige Symptome beschrieben, die häufig auftreten, wie u. a. orthostatische Intoleranz und Dysautonomie mit lageabhängigen Schwindel, Tachykardie und Ohnmachtsgefühl, neuromuskuläre Symptome, grippeähnliche Symptome, Muskel-, Kopf-, und Gelenkschmerzen, Unverträglichkeit von Reizen wie Licht und Geräuschen und mehr.

Die Leitlinie bietet Definitionen für viele Begriffe und Symptome. Fatigue wird beispielsweise definiert als:

  • grippeähnliches Gefühl, vor allem zu Beginn der Krankheit
  • Unruhe oder das Gefühl, aufgedreht aber trotzdem erschöpft zu sein („wired but tired“)
  • geringe Energie oder mangelnde körperliche Kraft, um Aktivitäten des täglichen Lebens zu beginnen oder zu beenden sowie körperlich ausgelaugt sein
  • kognitive Fatigue, die bestehende Schwierigkeiten verschlimmert
  • rascher Verlust von Muskelkraft oder Ausdauer nach dem Beginn einer Tätigkeit, was z. B. zu plötzlicher Schwäche, Ungeschicklichkeit, mangelnder Koordination und der Unfähigkeit, körperliche Anstrengungen konstant zu wiederholen, führt.

Eine Verdachtsdiagnose soll nach 6 Wochen und eine ME/CFS-Diagnose nach 3 Monaten anhaltender Symptome gestellt werden. Kinder und Jugendliche sollen die Verdachtsdiagnose nach einem Monat erhalten.

Sobald die Diagnose ME/CFS vermutet wird, sollen Ärzt*innen den Betroffenen empfehlen, „sich nach Bedarf auszuruhen und zu erholen“ und nicht zu versuchen, sich trotz der Symptome „zu pushen“. NICE weist explizit darauf hin, dass dies den „ganzen Tagesablauf, einschließlich Arbeit, Schule und andere Aktivitäten“ betrifft.

 

Post-Exertional Malaise im Fokus

Die Leitlinie rückt das Hauptsymptom Post-Exertional Malaise (PEM) in den Mittelpunkt und richtet alle Empfehlungen daran aus.

Post-Exertional Malaise wird folgendermaßen in der Leitlinie definiert:

„Die Verschlimmerung der Symptome nach minimaler kognitiver, körperlicher, emotionaler oder sozialer Aktivität oder nach Aktivitäten, die zuvor toleriert werden konnten. Die Symptome können sich typischerweise 12 bis 48 Stunden nach der Aktivität verschlimmern und über Tage oder sogar Wochen anhalten, was manchmal zu einem Rückfall führt. Post-Exertional Malaise kann auch als Post-Exertional Symptom Exacerbation (Anmerkung: Abkürzung PESE) bezeichnet werden.“

Paradigmenwechsel – das Aus für aktivierende Therapien und psychosomatische Erklärungsmodelle

NICE führte eine umfassende Bewertung der Studienlage durch. Dabei wurden nicht einfach die Schlussfolgerungen der Studien übernommen, sondern alle Daten der Studien gründlich neu ausgewertet und auf Methodik überprüft  – z. B. ob Stichproben korrekt definiert, die Studien statistisch richtig ausgewertet wurden, und auch in Hinblick darauf, ob und wie das Kardinalsymptom von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise, in den Studien berücksichtigt wurde.

In Bezug auf die bislang empfohlenen aktivierenden Behandlungen körperliches Aufbautraining (Graded Exercice Therapy) und aktivierende kognitive Verhaltenstherapie ergab sich Folgendes: Von allen 236 Ergebnissen aus Studien zu körperlichem Aufbautraining und kognitiver Verhaltenstherapie für ME/CFS, wurde die Qualität der Evidenz für 205 Ergebnissen mit „sehr niedrig“ und der restlichen 31 mit „niedrig“ bewertet. Kein Resultat schaffte es auch nur als mittelmäßig bewertet zu werden. Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, dass körperliches Aufbautraining und kognitive Verhaltenstherapie wirksame Behandlungen für ME/CFS sind. Zudem bestätigen groß angelegte Umfragen unter Menschen mit ME/CFS, dass beide Behandlungen nicht wirken, dagegen aber potenziell schaden und die Symptomatik verschlechtern können.

Daher legt NICE in der Leitlinie für Ärztinnen und medizinisches Fachpersonal fest, dass Folgendes nicht mehr empfohlen werden soll:

  • jegliche Therapie, die auf körperlicher Aktivität oder Bewegung als Heilmittel für ME/CFS basiert
  • allgemeine Bewegungs- oder Trainingsprogramme – dies schließt Programme ein, die für gesunde Menschen oder Menschen mit anderen Krankheiten entwickelt wurden
  • jedes Programm, das nicht dem Ansatz der Empfehlung 1.11.13 folgt oder das feste, schrittweise Steigerungen der körperlichen Aktivität oder des Trainings vorsieht, z. B. eine abgestufte Bewegungstherapie
  • Bewegungs- oder Trainingsprogramme, die auf Theorien über Dekonditionierung und Bewegungsvermeidung als aufrechterhaltende Faktoren von ME/CFS beruhen.

Ebenso wie Sport wird daher auch keine aktivierende Verhaltenstherapie mehr empfohlen. Es wird klargestellt, dass Verhaltenstherapie lediglich wie bei anderen chronischen Erkrankungen bei Interesse unterstützend zum Coping angeboten werden kann.  

NICE macht deutlich, dass es für die biopsychosozialen Theorien, auf denen bislang aktivierende Behandlungsansätze beruhen, keinerlei Grundlage gibt. Die Leitlinie lehnt diese Theorien der Dekonditionierung und Bewegungsvermeidung bei ME/CFS“ explizit ab und legt dar, dass keine Behandlungen auf Grundlage dieses Modells angeboten werden sollen. 

Statt Aktivierung wird Pacing empfohlen, das in der Leitlinie Energiemanagement heißt. Damit ist das Einhalten der Energie- und Belastungsgrenzen gemeint, um das Aufflammen von Symptomen nach Aktivität zu vermeiden. Mit dem Fokus auf Post-Exertional Malaise und Pacing liegt die NICE-Leitlinie auf einer Linie mit Institutionen wie den amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention sowie National Institutes for Health, der Weltgesundheitsorganisation, dem europäischen Forschungsnetzwerk EUROMENE, der US ME/CFS Clinician Coalition und immer mehr Gesundheitsbehörden weltweit. 

 

Schweres ME/CFS

Die Leitlinie beschreibt eingangs die vier Schweregrade mild, moderat, schwer und sehr schwer. Schweres und sehr schweres ME/CFS werden darüber hinaus in einem eigenen fünfseitigen Kapitel thematisiert.

Sehr schweres ME/CFS definiert die Leitlinie folgendermaßen:

Menschen mit sehr schwerem ME/CFS sind den ganzen Tag im Bett und auf Pflege angewiesen. Sie brauchen Hilfe bei der Körperpflege und beim Essen und vertragen keine sensorischen Reize. Manche Menschen können nicht schlucken und müssen vielleicht über eine Sonde ernährt werden.

Als weitere Symptome bei sehr schwerem ME/CFS werden aufgezählt:

  • starke und anhaltende Schmerzen, die muskuläre, arthralgische oder neuropathische Merkmale aufweisen können
  • Intoleranzen gegenüber Licht, Geräuschen, Berührung, Bewegung, Temperaturen und Gerüchenextreme
  • Schwäche mit stark eingeschränkter Beweglichkeit
  • eingeschränkte Fähigkeit oder Unfähigkeit zu sprechen oder zu schlucken
  • kognitive Schwierigkeiten, die die Fähigkeit der Person einschränken, sich zu verständigen und schriftliche oder mündliche Mitteilungen aufzunehmen
  • Schlafstörungen wie nicht erholsamer Schlaf, Hypersomnie und veränderter Schlafrhythmus
  • gastrointestinale Schwierigkeiten wie Übelkeit, Inkontinenz, Verstopfung und Blähungen
  • neurologische Symptome wie Doppeltsehen und andere Sehstörungen, Schwindel
  • orthostatische Intoleranz und autonome Funktionsstörungen, wie das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS) und posturale Hypotonie.

Die Leitlinie weist Ärzt*innen darauf hin, bei Menschen mit schwerem und sehr schweren ME/CFS „proaktiv und flexibel“ vorzugehen und nennt als Maßnahmen u. a. Hausbesuche, Online- oder Telefonberatungen und die Bereitstellung schriftlicher Mitteilungen.

Die Leitlinie führt aus:

Führen Sie bei jeder Interaktion mit einer Person mit schwerem oder sehr schwerem ME/CFS im Voraus eine Risikobewertung durch, um sicherzustellen, dass der Nutzen die Risiken (z. B. eine Verschlimmerung der Symptome) für die Person überwiegt. Bei Menschen mit sehr schwerem ME/CFS sollten Sie überlegen, ob Gespräche (falls angemessen) stattdessen mit Angehörigen oder Pflegenden der Person stattfinden können, wobei der Fokus immer auf der Person mit ME/CFS bleibt.

Kinder und Jugendliche mit ME/CFS

In jedem Kapitel gibt es eigene Erwägungen zur Umsetzung der Empfehlungen bei Kindern und Jugendlichen mit ME/CFS.

Bei Kindern und Jugendlichen mit ME/CFS sollen Ärzt*innen mindestens alle sechs Monate eine Überprüfung des Versorgungs- und Unterstützungsplans anbieten, bei Bedarf auch häufiger, je nach Schwere und Komplexität der Symptome.

Explizit wird auch der Schutz von Kindern angesprochen. Durch lange Schulfehlzeiten und das Unverständnis über die Erkrankung, werden Familien teils sozialrechtliche Maßnahmen bis hin zum Sorgerechtsentzug angedroht. Die Leitlinie schafft eine Grundlage, um zu differenzieren und Familien vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen.

 

Behandlung und Management von ME/CFS 

Die Leitlinie sieht vor, dass Ärzt*innen frühzeitig eine sorgfältige Diagnose stellen, damit eine Betreuung zeitnah beginnt.

Patient*innen und Angehörige sollen ausführliche Informationen über ME/CFS erhalten. Insbesondere sollen Ärzt*innen über die Grundsätze des Pacings aufklären, mit den Patient*innen einen Plan ausarbeiten und besprechen, wie mit Crashs umgegangen werden kann. Die Symptome, wie beispielsweise orthostatische Intoleranz, Schlafstörungen, Schmerzen oder Übelkeit, sollen bestmöglich gelindert werden. Komorbiditäten sollen miteinbezogen und behandelt werden. Patient*innen sollen mit Ernährungsberatung unterstützt werden, wenn Unverträglichkeiten, Beschwerden beim Kauen und Schlucken oder ungewollte starke Gewichtsveränderungen auftreten. Es sollen regelmäßige Termine zum Nachverfolgen der Symptome stattfinden. Darüber hinaus sollen Ärzt*innen bei der Beantragung von Sozial- und Versicherungsleistungen sowie Hilfsmitteln unterstützen, um Patient*innen möglichst viel Selbstständigkeit und Teilhabe zu ermöglichen.

 

ME/CFS im Krankenhaus

Besondere Vorkehrungen, die bei Krankenhausaufenthalten nötig sind, werden erläutert – allgemein für ME/CFS-Patient*innen und ausführlicher für schwer und sehr schwer Betroffene.

Bei Menschen mit schwerem und sehr schwerem ME/CFS sieht die Leitlinie beispielsweise vor:

  • mit der betroffenen Person (und gegebenenfalls ihrer Familie oder ihren Betreuern) besprechen, was sie bei der Einlieferung ins Krankenhaus erwartet
  • versuchen, Post-Exertional Malaise nach dem Transport ins Krankenhaus zu minimieren, z. B. indem die Route im Voraus geplant wird, laute Bereiche vermieden werden und die Person bei der Ankunft direkt auf die Station gebracht wird
  • den Pflege- und Betreuungsplan der Person mit ihr besprechen, einschließlich Informationen über Komorbiditäten, Unverträglichkeiten und Intoleranzen, um alle erforderlichen angemessenen Anpassungen zu planen
  • nach Möglichkeit ein Einzelzimmer vorzusehen
  • Stimuli auf ein Minimum zu beschränken, zum Beispiel durch:
    • Einzelgespräche
    • ruhige Bewegungen und Gesten
    • keine doppelten Beurteilungen
    • vorsichtigen Umgang mit Berührungsdruck
    • gedämpftes Licht
    • Reduzierung von Geräuschen
    • eine stabile Temperatur
    • Minimierung von Gerüchen.

Entstehung der Leitlinie

Die Leitlinie wurde über einen Zeitraum von über drei Jahren von Grund auf neu erarbeitet. Das Leitlinienkomitee bestand aus 20 Personen – sieben Ärzt*innen, einem Medizinprofessor, zwei leitenden Wissenschaftler*innen, einem Sozialarbeiter, einem Physiotherapeuten, einem Ergotherapeuten, einem Ernährungsberater, einem Klinikleiter sowie fünf ME/CFS-Patient*innen und Angehörigen. Die methodische Auswertung der gesamten Evidenz wurde von einem eigenen Team von NICE, das aus Fachleuten zur Auswertung von Daten besteht, vorgenommen.

 

Problematische Stellen 

Es gibt weiterhin kritikwürdige Stellen.

Das Leitlinienkomitee war mit Personen besetzt, die aus ganz verschiedenen Bereichen kamen und einen Konsens finden mussten. Die Evidenz, die vom Expertenteam von NICE ausgewertet wurde, ist eindeutig: Für aktivierende Therapien gibt es keinen Wirksamkeitsnachweis, hingegen können sie den Erkrankten potentiell schaden. Doch dass Aktivität, Bewegung und Rehabilitationsmaßnahmen nicht immer gesundheitsfördernd sind, sondern sogar schaden können, wenn das Symptom der Belastungsintoleranz (PEM) auftritt, bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Medizin, der sich nur langsam vollzieht.

Graded Exercise Therapy und aktivierende kognitive Verhaltenstherapie sind zwar als Behandlungen gestrichen, doch stehen – obwohl dies nicht von der Evidenz gedeckt ist – weiterhin Bewegung und Aktivität als Ansätze in der Leitlinie. Jedoch mit bedeutenden Unterschieden zu früheren Empfehlungen: Ärzt*innen müssen Patient*innen über mögliche Nachteile aufklären, Patient*innen müssen zustimmen, können diese Zustimmung jederzeit ohne Nachteile zurückziehen, die Behandlungen dürfen nicht auf Grundlage der widerlegten Theorien stattfinden, dürfen keine festgelegte Steigerung von Aktivität vorsehen und Post-Exertional Malaise muss immer berücksichtigt werden, sodass es zu keiner Überlastung kommt.

Bei den Diagnosekriterien hat sich NICE zwar an den IOM-Kriterien orientiert, aber statt fünf nur noch vier Hauptsymptome definiert, die vorhanden sein müssen. Die orthostatische Intoleranz und Dysautonomie (die Unfähigkeit, den Kreislauf an eine aufrechte Position anzupassen) ist vom Hauptsymptom zum weiteren Symptom (runter)klassifiziert worden. Da der IOM-Bericht von 2015 zu dem Schluss kommt, dass die OI eine hohe Prävalenz und klinische Wichtigkeit bei ME/CFS hat, ist es fraglich, warum es von NICE nicht wie vom IOM als eines der Hauptsymptome klassifiziert wurde.

Doch ist die Leitlinie trotz einiger Zugeständnisse ein großer Schritt in die richtige Richtung hin zu einer evidenzbasierten Versorgung.

 

Ausblick – wie geht es weiter?

Nun ist entscheidend, dass die Änderungen in Großbritannien tatsächlich zeitnah, umfassend und flächendeckend in der Praxis umgesetzt werden. Ärzt*innen, Krankenhäuser und Behörden müssen informiert und Behandlungskonzepte, Materialien und Webseiten angepasst werden. Graded Exercise Therapy und aktivierende kognitive Verhaltenstherapie müssen als Behandlungen gestrichen werden und dürfen auch nicht unter anderem Namen fortgeführt werden. Ebenso darf nicht länger Forschungsförderung in Studien mit diesen Behandlungen fließen – diese haben in den letzten Jahrzehnten einen Großteil der knappen Forschungsgelder erhalten.

#MEAction hat eine Aktion mit einem Video gestartet, das Erkrankte an ihre Ärzt*innen schicken können, um sie über die Änderungen zu informieren: „Tell your doctor that GET is gone“.

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS wird Ministerien, Gesundheitsbehörden, Rehaeinrichtungen und weitere relevante Stellen in Deutschland über die neue NICE-Leitlinie informieren und die Auswertung der Evidenz sowie wichtige Aussagen für unsere weitere Arbeit nutzen.

Wie in Großbritannien wird auch in Deutschland eine eigene medizinische Leitlinie zu der häufigen und schweren Erkrankung ME/CFS benötigt, dafür setzt sich die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS weiterhin ein.

 

Fazit

Die neue Leitlinie ist ein Sieg für die Wissenschaft. Oder um es mit Prof. Dr. Brian Hughes’ Worten zu sagen, ein Sieg von evidenzbasierter Medizin über „eminenzbasierte Medizin“.

Jahrzehntelang dominierten psychosomatische Hypothesen ohne wissenschaftliche Evidenz das Feld, die einen Wirksamkeitsnachweis schuldig blieben, aber von einer kleinen Gruppe sehr eminenter Wissenschaftler*innen vertreten wurden. Dies stand im starken Gegensatz zur Einordnung der WHO von ME/CFS als neurologische Krankheit und den vielen biomedizinischen und klinischen Studien von 1957 an bis heute, die ME/CFS als neuroimmunologische Krankheit beschreiben. Die psychiatrisierenden Hypothesen führten dazu, dass die Behandlungen Graded Exercise Therapy und aktivierende kognitive Verhaltenstherapie, die nicht wirken und sogar potentiell schaden, Eingang in offizielle Leitlinien fanden. Obwohl Studien zu diesen Interventionen keine signifikanten Ergebnisse brachten, erhielten sie über Jahrzehnte durchgehend einen Großteil der knappen Forschungsgelder. Diese Weigerung, widerlegte Hypothesen ohne Evidenz aufzugeben, hielt die biomedizinische und biochemische Forschung auf und behinderte die Erforschung der zugrundeliegenden Pathomechanismen, diagnostischen Biomarker und Entwicklung von Medikamenten.

Als Folge dieses Irrwegs gibt es heute – über fünfzig Jahre nachdem ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als neurologisch codiert wurde – keine Versorgungs- und Forschungsstrukturen sowie keine zugelassene Behandlung.

Es ist ernüchternd, dass eine Leitlinie ein Durchbruch ist, die keine wirksame Behandlung enthält und lediglich besagt, dass Patient*innen nicht durch kontraindizierte Behandlungen kränker gemacht, nicht stigmatisiert und angezweifelt, sondern mit Empathie und Respekt behandelt und bestmöglich unterstützt werden sollen. Was für ME/CFS Jahrzehnte gedauert hat, ist eine Selbstverständlichkeit bei anderen Krankheiten. Für Generationen von Patient*innen, deren Leben zerstört wurden, kommt diese Leitlinie zu spät.

Es ist die Verantwortung von Gesundheitssystem und Politik, die die Erkrankten und das Hauptsymptom Post-Exertional Malaise jahrzehntelang ignoriert haben, diese verlorene Zeit aufzuholen. Eine Lehre muss sein, Erkrankten zuzuhören, sie als Expert*innen ihrer Erkrankung ernst zu nehmen und mit einzubeziehen. Die NICE-Leitlinie ist ein wichtiger erster Schritt.

 

Hinweis

Selbstverständlich kann ein Überblick nicht der ausführlichen Leitlinie und dem jeweiligen Kontext, zudem in Übersetzung, vollkommen gerecht werden. Daher empfehlen wir bei weitergehendem Interesse die Lektüre der Original-Leitlinie und bei Bedarf das Zitieren aus dem Original.

Redaktion: jhe

Editor: dha, tbe