Eine Wüste mit einem versunkenen Erste-Hilfe Koffer

ME/CFS-Versorgungswüste

(K)ein Tropfen für die ME/CFS-Versorgungswüste?

Viel angekündigt, wenig umgesetzt

Unterversorgt: der Vergleich ME/CFS mit MS

Um das ganze Ausmaß der Unterversorgung von ME/CFS-Erkrankten greifbar zu machen, bietet sich ein Vergleich mit Multipler Sklerose (MS) an, die ebenfalls als neurologische Erkrankung eingestuft wird. Die MS ist in Schwere und Häufigkeit ähnlich. Seit der Pandemie hat sich die Zahl der Menschen mit ME/CFS vermutlich auf ca. 500.000 verdoppelt. Im Vergleich zur MS, liegt nicht nur die Forschung zu ME/CFS ca. 40 Jahre im Rückstand, es fehlt auch fast vollständig an Versorgungsstrukturen. Für ME/CFS-Erkrankte gibt es in ganz Deutschland lediglich eine Ambulanz für Erwachsene und eine für Kinder und Jugendliche. Beide Ambulanzen nehmen aufgrund des hohen Patient*innenaufkommens nur Erkrankte aus der Region auf. Im Vergleich hierzu gibt es für MS-Erkrankte laut DMSG 72 Schwerpunktzentren und 90 MS-Zentren. Für Menschen mit ME/CFS nach COVID-19 stehen in der Theorie über 100 Post-COVID-19 Ambulanzen für Erwachsene und Kinder zur Verfügung. Ein Großteil der Post-COVID-Ambulanzen ist jedoch aufgrund mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten und fehlenden Personals nicht ausreichend auf die kontinuierlich wachsende Zahl der Patient*innen sowie im Einzelnen auf die Erfassung und Versorgung der diversen Symptome des postinfektiösen Krankheitszustandes eingestellt. Viele Patient*innen berichten außerdem, dass an den Ambulanzen kein ausreichendes Wissen zu ME/CFS besteht. Menschen, die nach anderen Infektionen und Auslösern an ME/CFS erkrankt sind – und teils schon seit Jahrzehnten erkrankt sind – werden zudem an den Post-COVID-Ambulanzen nicht angenommen und behandelt.

Zu den fehlenden Anlaufstellen kommen fehlende Therapien. Für ME/CFS gibt es bis heute keine kausale Therapie und kein zugelassenes Medikament. Laut AMSEL wurde bereits 1993 in den USA Beta-Interferone als spezifische MS-Therapie zugelassen und 1995 in Deutschland eingeführt (Therapieansätze gab es bereits vorher). Mittlerweile gibt es 16 für MS zugelassene Medikamente. Auch in Bezug auf eine Behandlung liegt ME/CFS demnach mehr als 30 Jahre zurück.

Man kann das Problem auch umgekehrt betrachten: Würden über Nacht für alle Menschen mit Multipler Sklerose die 160 Anlaufstellen, 16 Medikamente, 90 % der Forschung und ein breites Wissen in der Ärzteschaft verschwinden, in welcher Situation würde das die Erkrankten zurücklassen?  Würden wir als Gesellschaft nicht sofort alles tun, um den 250.000 Menschen mit dieser schrecklichen Erkrankung zu helfen?

Vonseiten der Politik wird mittlerweile ein Handlungsbedarf formuliert

Nachdem ME/CFS viele Jahrzehnte von Mediziner*innen und Politiker*innen nicht beachtet oder bagatellisiert wurde (mehr Informationen zur Historie im Artikel „Durch Wegschauen wurde noch keine Krankheit erforscht“), ist die Krankheit in den letzten Jahren zunehmend in die Öffentlichkeit gekommen. In diesem Zuge gibt es eine Reihe von öffentlichen Forderungen und Ankündigungen, die Lage zu verbessern:

  • Nach einer Petition und aufrüttelnden Rede einer bettlägerigen Erkrankten verabschiedete 2020 das Europäische Parlament eine Resolution, in der es die Mitgliedsstaaten aufforderte, mehr Gelder für die Erforschung von ME/CFS bereitzustellen, mehr für die Anerkennung zu tun, Aufklärungskampagnen durchzuführen und finanzielle Mittel zur Aus- und Weiterbildung von Fachpersonal bereit zu stellen.
  • Im Koalitionsvertrag 2021 der aktuellen Bundesregierung nimmt sich die Koalition vor, ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für ME/CFS und die Langzeitfolgen von COVID-19 aufzubauen. Long COVID Deutschland und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hatte sich für die Aufnahme in den Koalitionsvertrag und für eine weitere Reihe von Maßnahmen eingesetzt.
  • Gesundheitsminister Lauterbach kündigte Anfang 2023 an, 100 Millionen Euro für eine großangelegte Initiative und Versorgungsforschung für Long COVID bereitzustellen und bekräftigte dieses Vorhaben mehrmals. In einer Ankündigung im Juli gab der Minister eine Förderung von nur noch 41 Millionen Euro bekannt (21 Millionen Euro vom BMG und 20 vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses – Pressekonferenz, Pressemitteilung). Neben der Forschungsförderung wurden eine Webseite zu Long COVID und ein Runder Tisch angekündigt. In der begleitenden Pressemitteilung des BMG fand ME/CFS keine Berücksichtigung. Auch auf der neuen Webseite wird es kaum thematisiert, die dort genannten Anlaufstellen beziehen sich nicht auf ME/CFS und es gibt eine Reihe von problematischen Aussagen.
  • 2023 wurde ein Antrag der Unionsfraktion zu Hilfen für Patienten mit ME/CFS im Bundestag abgelehnt. Der Antrag forderte unter anderem die Umsetzung des Aufbaus der Kompetenzzentren, eine Task Force, Förderung von Therapieforschung, Beratungsangebote, eine Aufklärungskampagne und eine Reihe von weiteren Maßnahmen. Im Rahmen einer Anhörung zum Antrag formuliert auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung in einer Stellungnahme die Notwendigkeit der Unterstützung für eine verbesserte Versorgung, inklusive dem Aufbau von Kompetenzzentren, und mehr Forschung.
  • Auf der Liegenddemo in Berlin am Internationalen ME/CFS-Tag am 12. Mai wurde von den auftretenden Politiker*innen unter anderem eine Aufstockung und Verstetigung von Forschungsmitteln, flächendeckende Versorgungsstrukturen und ein Schulsystem, das auf die Erkrankten eingehen kann, gefordert. „Ich kann versprechen, dass wir in diesen Haushaltsberatungen (…) dafür sorgen wollen, dass die Mittel verstetigt werden.“, sagte Katrin Göring-Eckhardt, Vizepräsidentin des Bundestages.
  • In einem umfangreichen (stellenweise kritikwürdigen) Bericht zu ME/CFS empfiehlt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) eine verbesserte Versorgung, Aufklärung und Integration von Lehrinhalten zu ME/CFS in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen sowie verstärkte Forschung zu Ätiologie, Therapie und Versorgung.
  • Die Bundesgesundheitsministerkonferenz fordert in einem Beschluss von 2023 das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf, das im Koalitionsvertrag angekündigte „Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für eine bedarfsgerechte Versorgung Patientinnen und Patienten mit Langzeitfolgen von COVID-19 sowie ME/CFS zu schaffen“. Außerdem soll das BMG über geplanten Aufklärungsmaßnahmen im Kontext des veröffentlichten IQWiG-Reports berichten und wird aufgefordert „zu prüfen, welche Möglichkeiten bestehen um ME/CFS in bestehenden Strukturen (Disease-Management-Programm [DMP], Chronikerpauschale, Programme der ambulanten spezialärztlichen Versorgung [ASV, § 116b SGB V]) einzubeziehen und über das Ergebnis der Prüfung in der 52. Sitzung der AOLG am 22./23. November 2023 zu berichten.“
  • Der Petitionsausschuss des Bundestages spricht sich 2023 für eine bessere Unterstützung der ME/CFS-Erkrankten aus: „Die Abgeordneten fordern, Betroffene in einer auskömmlich finanzierten Versorgungsstruktur nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen zu versorgen, das Bewusstsein für ME/CFS innerhalb der Ärzteschaft und der gesamten Sozialversicherung durch spezifische Aus- und Weiterbildung zu stärken, hinreichende finanzielle Mittel bereitzustellen sowie durch Ausweitung und Optimierung der notwendigen Infrastruktur die Forschung über diese Krankheit zu intensivieren.“ Die Petition wird an die Bundesregierung überwiesen.

Die Maßnahmen sind klar, nur die Umsetzung fehlt

Damit etwaige Gelder effektiv eingesetzt werden, haben die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland bereits im Frühjahr 2022 einen umfangreichen Nationalen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der an ME/CFS und Post-COVID Erkrankten veröffentlicht. Ein Jahr später haben wir die Maßnahmen noch einmal konkretisiert im Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung von ME/CFS und Post-COVID-Syndrom.

Die Finanzierung der Nationalen Studiengruppe (NKSG) für drei Jahre, der Biobank und dem Projekt IMMME sind ein erster Start, können aber den Versorgungs- und Forschungsrückstand nicht ausgleichen. Für Patient*innen, die teilweise seit Jahrzehnten ohne Versorgung sind, braucht es den schnellen Aufbau von biomedizinisch ausgerichteten Versorgungsstrukturen. Die im Koalitionsvertrag aufgeführten Kompetenzzentren wären hier ein wichtiger Schritt. Bei der Ausschreibung der Zentren sollte dafür Sorge getragen werden, dass diese nicht auf Basis überholter psychosomatischer Krankheitsmodelle behandeln. Psychosomatische Behandlungsansätze wie die Aktivierungstherapie GET (Graded Exercise Therapy) und die ebenfalls auf Aktivierung ausgelegte kognitive Verhaltenstherapie (CBT) können bei ME/CFS-Betroffenen bzw. bei Betroffenen mit Post-Exertional Malaise massive nachhaltige Zustandsverschlechterungen auslösen (siehe Aktivierung bei ME/CFS). Stattdessen muss sich die Versorgung auf Fachbereiche wie die Immunologie, Infektiologie, Neurologie, Kardiologie, Pädiatrie, u. w. stützen. Dass eine Förderung von Kompetenzzentren für Long COVID und ME/CFS jederzeit möglich ist, zeigt der Aufbau von Kompetenzzentren für Multiple Sklerose, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007 bekanntgegeben und umgesetzt hat. Es ist dabei nicht notwendig, auf Ergebnisse der Versorgungsforschung zu warten, es kann auf die reichhaltige Erfahrung der Ambulanzen an der Berliner Charité und Münchner TUM sowie der weltweiten ME/CFS-Expert*innen aufgebaut und direkt gestartet werden. Vorschläge wie solche Kompetenzzentren aufgestellt sein sollten, haben wir in unserem Aktionsplan und Länderleitfaden unterbreitet.

Es gibt wahrscheinlich keine Krankheit in Deutschland (und auch weltweit), die so schwer, so verbreitet und dabei so unterversorgt ist wie ME/CFS. Für ca. 500.000 ME/CFS-Erkrankte gibt es in der Praxis (fast) keine Versorgung, kaum soziale Unterstützung, keine kausalen Therapien, keine zugelassenen Medikamente und eine Forschungslage, die ca. 40 Jahre im Rückstand ist. Der Handlungs- und Nachholbedarf sind riesig. Ein schrumpfender Haushaltsetat kann daher nicht Argument sein, keine umfangreichen Maßnahmen zu ergreifen. Auch muss ME/CFS nach allen Infektionen und Auslösern in der Long-COVID-Initiative des BMG – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – gleichberechtigt berücksichtigt werden. Dies bedeutet auch, dass die ME/CFS-Organisationen und Initiativen zum angekündigten Runden Tisch des BMG am 12. September eingeladen werden müssen.

Es braucht jetzt ein umfangreiches Paket an Maßnahmen und ein Commitment nicht nur von der Politik, sondern auch von Vertreter*innen der Medizin, diesen jahrzehntelang andauernden Missstand zu korrigieren.

Redaktion: tel