Grafik zeigt, dass ME/CFS 10 Mal weniger Forschungsveröffentlichungen hat, verglichen mit anderen Erkrankungen.

Die ME/CFS-Forschung ist ca. 40 Jahre im Rückstand

Die ME/CFS-Forschung ist ca. 40 Jahre im Rückstand

Warum der historische Forschungsrückstand trotz Haushaltskürzungen angegangen werden muss

Das historische ME/CFS-Forschungsloch

Es ist schwierig, Forschungsstände verschiedener Krankheiten zu vergleichen. Ein sehr grobes Werkzeug ist die Förderhöhe und Zahl der Veröffentlichungen. Beides zeigt in groben Linien das wissenschaftliche und gesellschaftliche Interesse an einer Erkrankung.

Vergleicht man die Gesamtzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu ME/CFS mit Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Rheumatischer Arthritis oder Lupus, zeigt sich bei den letztgenannten in den 1990ern und 2000ern ein starker Anstieg der Veröffentlichungen. Gleichzeitig blieb die Zahl der Studien zu ME/CFS auf einem sehr niedrigen Niveau. Über die Jahre hat sich hier eine große Forschungslücke aufgetan, die bis heute stetig wächst. Obwohl ME/CFS vor der Pandemie mit ca. 250.000 Erkrankten in der Häufigkeit mit der von MS vergleichbar war, finden sich auf PubMed alleine 10-mal mehr Veröffentlichungen zu Multipler Sklerose. Die aktuelle Anzahl der ME/CFS-Studien wurde bereits 1984/85 bei MS überschritten. Die ME/CFS Forschung liegt in Bezug auf die Anzahl der Studien demnach 40 Jahre zurück.

Eine Studie von 2016 zeigt diese Differenz auch in der Höhe der weltweiten Forschungsförderung. Zwischen 2007 und 2015 wurden global 47 Millionen Pfund in ME/CFS Forschung investiert. Dem gegenüber standen 1,1 Milliarden Pfund für MS. Eine Fördersumme die 23-mal so hoch ist. Für den untersuchten Zeitraum listet PubMed über 31.000 Studien zu MS, was einer durchschnittlichen Förderung von über 35.000 Pfund pro Studie entspräche. Um die Forschungslücke von etwa 100.000 Studien zu schließen, wären nach diesem (sehr) groben Umriss ca. 3,5 Milliarden Pfund an weltweiter Förderung notwendig (Stand 6. Juli 2023 ungefähr 4 Milliarden Euro). Diese Rechnung ist stark vereinfacht und weist einige Probleme auf (z. B. liegen Förderung und Veröffentlichung in der Regel mehrere Jahre auseinander), sie gibt jedoch ein Gefühl für die Größe der Forschungslücke, die sich in den letzten Jahrzehnten aufgetan hat. Das klingt nach viel Geld, bis man sich vor Augen führt, dass der volkswirtschaftliche Schaden alleine in Deutschland vor der Pandemie wahrscheinlich über 7 Milliarden Euro pro Jahr betragen hat. Um die ME/CFS-Forschung voranzutreiben braucht es nicht einmal eine große Anzahl von biomedizinischen Studien.

Es braucht vor allem große und damit teure Studien. Es gibt schon viele Hypothesen zur Pathophysiologie. Diese basieren jedoch häufig (aufgrund von niedrigen Budgets) auf Studien mit geringen Teilnehmerzahlen, die in größeren Maßstäben reproduziert werden müssten. Auch in Hinblick auf mögliche Subgruppen innerhalb von ME/CFS ist es wichtig, große Teilnehmerzahlen in Studien zu haben, am besten multizentrisch und multinational, um diese auch erkennen zu können.

Doch es gibt noch einen zweiten, wichtigen Faktor neben der Förderhöhe: Die Forschungsqualität.

Forschungsqualität ist ein weiterer wichtiger Faktor

Die ME/CFS-Forschung leidet nicht nur unter geringer Finanzierung, sondern auch unter mangelnder Forschungsqualität. Die britische Gesundheitsbehörde NICE hat dies in einer Analyse der Studien zu ME/CFS festgestellt. Es wurden unter anderem Studien zu ansteigender Aktivierungstherapie (Graded Exercice Therapy) und aktivierende kognitive Verhaltenstherapie untersucht. Von allen 236 Ergebnissen aus Studien zu körperlichem Aufbautraining und kognitiver Verhaltenstherapie für ME/CFS, wurde die Qualität der Evidenz für 205 Ergebnissen mit „sehr niedrig“ und der restlichen 31 mit „niedrig“ bewertet. Kein Ergebnis erreichte eine mittelmäßige Bewertung. In diese Art von Studien sind in den letzten Jahrzehnten Millionen geflossen. Wären sie in einem robusteren Studiendesign durchgeführt worden, hätte man diese Sackgasse früh erkennen, die Forschungsgelder an anderer Stelle einsetzen und massenweise Schäden an Erkrankten verhindern (Geragthy et al., 2017) können.

Auch in der Long-COVID-Forschung wird die Subgruppe der ME/CFS-Erkrankten zum großen Teil ignoriert, wodurch eine einmalige Chance vertan wird, ME/CFS in seiner Entstehung umfassend zu untersuchen. Wenn ME/CFS einen signifikanten Anteil der Long-COVID-Forschung ausmachen würde, müsste die Anzahl der jährlichen Studien zu ME/CFS sprunghaft steigen. Abhängig von der Art der Stichwortsuche variiert die Zahl der Studien zu Long COVID zwischen 10.000 und 18.000 innerhalb von drei Jahren. Die Anzahl der Studien zu ME/CFS liegt im Vergleich zu 2019 jedoch lediglich um ca. 200 höher. Bis zur Hälfte der Long-COVID-Patient*innen erfüllt nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer die Diagnosekriterien für ME/CFS, das spiegelt sich in keiner Weise in den Studien wider. Wenn ME/CFS-Erkrankte in den Studien nicht als Subgruppen konkret ein- oder ausgeschlossen werden, verfälscht das die Ergebnisse und mindert damit die Qualität.

Mehr gute Forschung jetzt

Mit gut konzipierten Studien könnte der Forschungsrückstand schnell aufgeholt werden. Ein positives Beispiel ist die Nationale Klinische Studiengruppe (NKSG) für ME/CFS und Post COVID-19-Syndrom. Sie verbindet in enger Zusammenarbeit mit Patient*innenorganisationen Therapieforschung mit einem Biomarkerprogramm. Das ermöglicht es neben der Prüfung von vielversprechenden Medikamenten Rückschlüsse auf die Pathophysiologie zu ziehen und basierend auf den Ergebnissen neue Therapien oder Forschungsbereiche auszuwählen.

Aufgrund der Pandemie wird sich die Anzahl der ME/CFS-Betroffenen und der damit verbundene volkswirtschaftliche Schaden wahrscheinlich verdoppeln, daher ist es so dringend wie nie zuvor, in Forschung zu investieren.