Norwegische Studie: gestörter Energiestoffwechsel bei ME/CFS
Hinweise auf eingeschränkte Funktion des wichtigen Enzyms PDH bei ME/CFS
Eine neue Studie erhärtet den Verdacht, dass der Energiestoffwechsel bei ME/CFS gestört ist. Dies hat eine Untersuchung der norwegischen Forscher Øystein Fluge, Olav Mella und Karl Johan Tronstad ergeben, deren Ergebnisse gerade im Journal of Clinical Investigation Insight erschienen sind. Die Studie legt nahe, dass die Funktion des Enzyms Pyruvatdehydrogenase/PDH deutlich eingeschränkt ist. Die PDH ist für den Abbau von Zucker in Energie zuständig. Die Forscher nehmen außerdem an, dass ein Bestandteil im Blutserum der Patienten (z. B. ein Autoantikörper) dafür verantwortlich sein könnte.
Das Enzym PDH spielt eine elementare Rolle im Energiestoffwechsel der Zellen. Das Enzym verbindet die Glykolyse (den enzymatischen Abbau von Zucker) mit dem Citratzyklus in den Mitochondrien, der hauptsächlich für die ATP-Produktion zuständig ist. Eine eingeschränkte Aktivität der PDH könnte wiederum für viele Symptome von ME/CFS ursächlich sein, wie z. B. die erhebliche Zustandsverschlechterung nach geringer körperlicher Belastung (PEM). Sie könnte auch eine verminderte Energieproduktion und eine erhöhte Laktatproduktion in den (Muskel-)Zellen von ME/CFS-Patienten erklären.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS begrüßt die neuen Forschungsergebnisse. Die Studie wirft ein neues Licht auf den möglichen Krankheitsprozess von ME/CFS. Auf Grund der Größe der Studie (200 Patienten/100 Probanden) und der statistisch aussagekräftigen Ergebnisse könnte es sich um einen Meilenstein in der ME/CFS-Forschung handeln.
Hintergrund: So gewinnt der Körper Energie
Der Mensch bezieht seine Energie aus drei Nahrungsquellen: Fetten, Kohlenhydraten (Zucker) und Proteinen (Aminosäuren). Fette haben den höchsten Energiegehalt und können lange in Fettdepots gespeichert werden. Der Körper wandelt Fette langsam und kontinuierlich in Energie um. Zucker in Form von Glukose kann sehr schnell für die Zellen bereitgestellt und in Energie umgewandelt werden. Der Körper kann Glukose (über Glykogen) aber nur kurzfristig in der Leber und in der Muskulatur speichern (ungefähr für 24 Stunden). Proteine bzw. Aminosäuren (die Kleinstbestandteile der Proteine) verwendet der Mensch nur in geringem Maße zur Energiegewinnung (ca. 5–15 % des Umsatzes), vor allem bei Ausdauerbelastung.
In den Zellen werden die einzelnen Stoffe dann hauptsächlich in den Mitochondrien über den Citratzyklus (in Form von Acytel-CoA) energetisch abgebaut, damit über die Atmungskette Adenosintriphosphat (ATP) produziert werden kann. Mitochondrien sind kleine Zellorganellen, die auch als Kraftwerke der Zellen bezeichnet werden. Jede Zelle hat im Schnitt 1000–2000 von ihnen. Die Anzahl variiert aber stark. Muskelzellen besitzen typischerweise wesentlich mehr Mitochondrien, da sie viel Energie verbrauchen. ATP ist ein kleines, extrem energiereiches Molekül und wird auch als Energiewährung des Körpers bezeichnet. Für die Herstellung von ATP in den Mitochondrien benötigt der Mensch Sauerstoff als Reduktionsmittel (dies ist der Grund, warum wir atmen).
Zucker in Form von Glukose muss über die Glykolyse (den enzymatische Abbau von Zucker) zuerst in das Molekül Pyruvat umgewandelt werden. Die Abbauprodukte der Fette steigen nach einem komplexen Vorgang (die sogenannte ß-Oxidation) als Acetyl-CoA in den Citratzyklus der Mitochondrien ein und treiben dann die ATP-Produktion an. Einige Aminosäuren werden ebenfalls zuerst in Pyruvat umgewandelt, die anderen steigen über Acetly-CoA sowie andere Zwischenprodukte in den Citratzyklus ein.
Damit das Pyruvat aus dem Zuckerabbau am Ende verwendet werden kann, muss es zuerst in die Mitochondrien transportiert werden und dort von dem Enzym PDH in Acetyl-CoA umgewandelt werden. Sonst können die Mitochondrien es nicht verwenden. Die PDH hat also eine Schlüsselrolle in der Verbindung der Glykolyse mit dem Citratzyklus in den Mitochondrien. Die PDH befindet sich im inneren der Mitochondrien in der mitochondrialen Matrix. Funktioniert sie nicht, ist der Abbau von Glukose in Energie stark gehemmt.
Der Körper kann auch ohne die Hilfe der Mitochondrien mit Hilfe von Zucker ATP herstellen, nämlich bei sauerstoffarmen (anaeroben) Verhältnissen (oder wenn die PDH gehemmt ist). Dazu verwendet er einen anderen chemischen Weg, bei dem Laktat (Milchsäure) anfällt. Dies ist die sogenannte anaerobe Glykolyse. Dabei wird deutlich weniger ATP produziert (15 Mal weniger), aber der Weg ist bis zu 100 Mal schneller als über die Mitochondrien. Dies geschieht z. B. beim Sprinten oder hoher sportlicher Belastung.
Ausführliche Informationen zur Studie
In der Studie wollten die norwegischen Forscher herausfinden, ob ein gestörter Energiestoffwechsel in den Zellen für die Symptome von ME/CFS verantwortlich sein könnte. Hier hatten die Wissenschaftler vor allem die Verschlechterung aller Symptome nach geringer körperlicher Belastung (medizinisch: Post Exertional Malaise), die schwere Fatigue (krankhafte Erschöpfung) und die äußerst langen Erholungsphasen der Patienten im Blick. Einige kürzlich erschienene Studien fanden immer wieder Hinweise auf einen gestörten Stoffwechsel in den Zellen von ME/CFS-Patienten. Laut Autoren der Studie könnten dafür z. B. ein überaktiviertes Immunsystem, Autoimmunität, Entzündungen im Körper oder gestörte Signalwege über körpereigene Rezeptoren verantwortlich sein.
Die Wissenschaftler waren vor allem an der Funktion des Enzyms Pyruvatdehydrogenase (PDH) interessiert, da dieses eine zentrale Rolle im Energiestoffwechsel der Zellen spielt. Die PDH verbindet die Glykolyse und den Abbau von einigen Aminosäuren mit dem Citratzyklus in den Mitochondrien, die wiederum ATP produzieren. Ist die PDH eingeschränkt, funktioniert die aerobe Glykolyse nicht mehr, d. h. der Abbau von Zucker in Energie ist stark gehemmt, die Zellen produzieren vermehrt Laktat und potentiell weniger Energie in Form von ATP.
Vorgehen/Studiendesign
Für die Studie untersuchten die Wissenschaftler die 20 Standard-Aminosäuren im Blutserum der Patienten, um einem gestörten Stoffwechsel auf die Spur zu kommen. 200 ME/CFS-Patienten wurden untersucht und die Ergebnisse mit denen von 102 gesunden Probanden verglichen. Unter den Patienten waren 162 Frauen und 38 Männer. Die ME/CFS-Patienten wurden nach den Kanadischen Konsenskriterien (CCC) diagnostiziert und aus drei verschiedenen klinischen Studien rekrutiert, die ebenfalls vom selben Team durchgeführt werden (Rituximab, Open Label Phase II (2015); Rituximab, multizentrische RCT-Studie Phase III [noch nicht abgeschlossen]; Cyclophosphamid, Open Label Phase II [noch nicht abgeschlossen]).
Ergebnisse der Studie
Genau die Aminosäuren waren bei ME/CFS-Patienten signifikant verringert, die nicht auf das Enzym PDH zur Umwandlung in Energie angewiesen sind (p < 0.001). Diese Aminosäuren steigen über Acetlyl-CoA oder andere Zwischenprodukte in den Citratzyklus der Mitochondrien ein und müssen nicht erst von der PDH zur weiteren Energiegewinnung umgewandelt werden. Dies lässt darauf schließen, dass die Funktion der PDH blockiert bzw. gehemmt ist und die von der PDH unabhängigen Aminosäuren vom Körper vermehrt verbraucht werden. Dies galt allerdings nur für die weiblichen Patienten. Bei den männlichen Patienten unterschied sich der Aminosäurespiegel nicht signifikant von den gesunden Probanden. Das Gewicht der Patienten, die körperliche Aktivität, Krankheitsdauer und Schwere der Symptomatik hatten nur geringen Einfluss auf den Aminosäurenstoffwechsel.
Die Wissenschaftler untersuchten zusätzlich die Gen-Expression von Enzymen (sog. PDH-Kinasen) und Proteinen, die die Funktion der PDH hemmen, und fanden erhöhte Level der hemmenden Enzyme und Proteine. Dies war bei Frauen und Männern gleichermaßen der Fall und war abhängig von der Krankheitsdauer, Schwere der Symptomatik und dem Aktivitätslevel.
Um die Ergebnisse zu erhärten, untersuchten die Wissenschaftler den Effekt von Patientenserum auf im Labor gezüchtete Skelettmuskelzellen. Die gezüchteten Muskelzellen wurden 6 Tage lang dem Blutserum von 12 teils schwerkranken ME/CFS-Patienten und 12 gesunden Probanden ausgesetzt. Interessanterweise verbrauchten die Zellen, die dem Serum der Patienten ausgesetzt waren, vermehrt Aminosäuren für die Energieproduktion, selbst dann, wenn Glukose hinzugefügt wurde. Damit wurden die vorherigen Messungen bestätigt. Der allgemeine respiratorische Umsatz der Mitochondrien war ebenfalls erhöht. Hierbei handelt es sich evtl. um einen kompensatorischen Mechanismus, der durch die Hemmung der PDH ausgelöst wird. Die respiratorische Funktion der Mitochondrien war bei beiden Gruppen intakt. Auch produzierten die Muskelzellen bei erhöhter Aktivität vermehrt Laktat, was ebenfalls auf eine eingeschränkte PDH hinweist (in Ruhe war die Laktatproduktion dagegen nicht erhöht).
Einordnung der Ergebnisse
Die Autoren vermuten, dass die Funktion des Enzyms PDH gestört ist bzw. gehemmt wird. Damit wäre die Energiegewinnung aus Glukose (Zucker) stark eingeschränkt. Der Körper von ME/CFS-Patienten könnte deshalb vermehrt auf Aminosäuren zur Energiegewinnung zurückgreifen, die die PDH nicht benötigen, sondern über andere Abbauprodukte in den Citratzyklus der Mitochondrien einsteigen. Die Forscher spekulieren ebenfalls darüber, ob der Körper vermehrt auf Fette zurückgreift, haben dazu aber keine Messungen vorgenommen. Dies könnte möglicherweise erklären, warum sich der Zustand der Patienten nach schon geringer körperlicher Belastung so schnell verschlechtert und die Patienten sich so langsam erholen. In Ruhelage könnte der Körper die eingeschränkte Funktion der PDH vermutlich über andere Stoffe wie Aminosäuren und Fette ausgleichen, bei körperlicher Aktivität erhöht sich aber der mitochondriale Umsatz bis um das 100-fache (so etwa beim Sport). Bei mangelnder Funktion der PDH kann der Körper nicht mehr genug Energie zur Verfügung stellen und es wird vermehrt Laktat produziert.
Trotz des vermuteten vermehrten Umsatzes von Aminosäuren bewegten sich die Aminosäurenlevel bei den Patienten auf einem normalen und ausreichenden Niveau. Ernährungsergänzung sei also laut der Studie nicht notwendig. Bei männlichen Patienten wurden die verringerten Aminosäurespiegel nicht festgestellt, wohl aber eine vermehrte Hemmung der PDH durch die PDH-Kinasen. Dies könnte laut den Autoren zum einen an der geringen Anzahl von männlichen Patienten liegen (n = 38, niedrige statistische Aussagekraft), zum anderen an einem unterschiedlichen Stoffwechsel zwischen Männern und Frauen (Männer haben eine höhere Muskelmasse, d.h. eine größere Quelle für Aminosäuren [Proteine], der Spiegel sinkt also nicht so schnell ab).
Im Blutserum der Patienten muss sich zudem eine Substanz befinden, die die Veränderungen in den im Labor gezüchteten gesunden Muskelzellen auslöst. Hierbei könnte es sich z. B. um einen autoimmunen Antikörper handeln, der die Signalkaskaden und damit den Stoffwechsel der Zellen (z. B. über einen Membranrezeptor) stört. Dies würde im Einklang mit der vorherigen Forschung aus Norwegen stehen, die einen guten Effekt des Medikaments Rituximab festgestellt hat. Rituximab führt zum Absterben von B-Zellen und damit zur Reduktion von Autoantikörpern. Die Autoren gehen schon länger von der Möglichkeit aus, dass es sich bei ME/CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt, und erforschen aktuell eine mögliche Behandlung mit den immunsupressiven (also Prozesse des Immunsystems unterdrückenden) Medikamenten Rituximab und Cyclophosphamid.
Methodische Kritik
Die Patienten wurden multizentrisch (an mehreren Krankenhäusern) nach den Kanadischen Konsenskriterien (CCC) diagnostiziert und ausgewählt. Die CCC bieten eine gute Grundlage dafür, ME/CFS sicher zu diagnostizieren und von anderen Krankheiten trotz fehlenden Biomarkers abzugrenzen. Zudem wurden die Patienten aus aktuell laufenden klinischen Studien rekrutiert, in denen eine sorgfältige Auswahl der Patienten erfolgt war. Die statistische Aussagekraft ist groß: Erstens war die Kohorte groß und umfasste 200 Patienten sowie 100 gesunde Probanden. Und zweitens handelte es sich bei den Abweichungen der Aminosäurenlevel um hoch signifikante Ergebnisse (p < 0,001 / < 0,1%). Die Experimente an den Muskelzellen wurden allerdings mit einer kleinen Gruppe durchgeführt (n = 12/12) und sollten mit einer größeren Anzahl von Patienten überprüft und repliziert werden.
Verbindung zu anderen Studien
Mehrere kürzlich erschiene Studien fanden ebenfalls Hinweise auf einen gestörten Energiestoffwechsel bei ME/CFS. So fanden Armstrong et al. von der Universität Melbourne (2015) ebenso Hinweise auf eine eingeschränkte Glykolyse. Eine 2016 erschienene Studie von Naviaux et al. von der Universität Kalifornien fand signifikante Abweichungen in 20 verschiedenen Stoffwechselprodukten, davon waren über 80 % verringert. Eine japanische Studie (2016) von Yamano et al. fand verschobene Verhältnisse von Stoffwechselprodukten im Citrat- und Harnstoffzyklus. Hier war ebenfalls wie in der vorliegenden Studie das Zwischenprodukt Pyruvat betroffen. Wissenschaftler aus Kalifornien und der Columbia Universität (2016) um Lawson et al. stellten einen erhöhten ATP-Umsatz in den Mitochondrien von ME/CFS fest, was auf eine erhöhte respiratorische Aktivität schließen lässt. Newton et al. an der Newcastle Universität, England, fanden eine verminderte Glukoseaufnahme in stimulierten Muskelzellen, die ME/CFS-Patienten entnommen wurden.
Links
Studie:
Weitere Quellen:
Beitrag des norwegischen Fernsehens über die Studie und einen sehr schwer von ME/CFS Betroffenen mit einem Interview mit Dr. Øystein Fluge (mit deutschen Untertiteln):
Zur Anzeige der Inhalte klicken
Das Video kann alternativ hier aufgerufen werden.
Redaktion: dha