DEGAM veröffentlicht revidierte Fassung der Leitlinie „Müdigkeit“

Stellungnahme

Leitlinie „Müdigkeit“: Kapitel zu ME/CFS ist keine „Leitlinie im engeren Sinne“

DG für ME/CFS rügt erfolgreich gravierende methodische Mängel

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) hat am 22. Mai 2018 ihre Leitlinie „Müdigkeit“ veröffentlicht. Die DG für ME/CFS konnte verhindern, dass die Leitlinie verbindliche Behandlungsempfehlungen ausspricht, die nicht dem Stand der Forschung entsprechen.

Wörtlich heißt es nun in dem Text der Leitlinie, die Literaturauswahl zu ME/CFS sei „selektiv“ und die Autorinnen und Autoren verzichteten auf eine „Leitlinie im engeren Sinne“. Sebastian Musch, Vorsitzender der DG ME/CFS erklärte dazu:

Das Kapitel zu ME/CFS in der Leitlinie ‚Müdigkeit‘ gibt den aktuellen Stand der Forschung nicht zutreffend wider. Unsere Kritik daran halten wir aufrecht. Wir begrüßen es aber, dass die Autorinnen und Autoren der Leitlinie das Defizit selbst einräumen und das Kapitel explizit nicht als belastbare Handlungsempfehlung verstanden wissen wollen. Weder praktizierende Ärzte noch Gutachter oder Amtsärzte werden sich daher auf dieses Leitlinien-Kapitel stützen können.
Sebastian MuschVorsitzender

Bei der Leitlinie Müdigkeit handelt es sich um eine sogenannte S3-Leitlinie, die strengen methodischen Ansprüchen genügen soll. Das von der DEGAM entworfene Kapitel konnte diesen Maßstab nicht einhalten. Die DEGAM hatte wissenschaftliche Studien zu ME/CFS nicht nach einer nachvollziehbaren Systematik ausgewählt. So blieben viele wichtige aktuelle und qualitativ hochwertige Studien – etwa die Arbeiten zum eingeschränkten Energiestoffwechsel (Naviaux et al. 2016, Fluge et al. 2017) und zur Post-Exertional Malaise (Snell et al. 2013, Cook et al. 2012/2017) – unberücksichtigt. Außerdem beanstandete die DG für ME/CFS, dass sich die DEGAM im Prozess der Leitlinienüberarbeitung über Verfahrensbestimmungen hinweggesetzt hatte.

Die DG für ME/CFS musste so den Eindruck gewinnen, dass ihre Beteiligung wie auch die der übrigen Patientenorganisationen nur pro forma erfolgen sollte. Die DG für ME/CFS zog sich daher aus Protest aus dem Überarbeitungsverfahren zurück (vgl. dazu die Stellungnahme vom 1. Februar 2018). Die anschließende Intervention der DG für ME/CFS bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hatte Erfolg und führte zu der revidierten Fassung. Die Leitlinie enthält nun nicht nur einen Hinweis auf die selektive Literaturauswahl, sondern auch darauf, dass aus Sicht der Patientenorganisationen Aktivierungstherapie schädlich sein könne.

Dr. Miguel Hattesohl, Stellvertretender Vorsitzender der DG für ME/CFS und zuständig für medizinwissenschaftliche Fragen, kommentierte:

Es ist ein wichtiger Schritt, dass die DEGAM von ihrer Einschätzung abrückt, der Text der Leitlinie spiegele den aktuellen Stand der Forschung zutreffend wider. Leider hat sie trotzdem die Chance vertan, wichtige wissenschaftlichen Einsichten für die hausärztliche Praxis verfügbar zu machen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass in der Leitlinie ohne belastbare Forschungslage weiter behauptet wird, dass Verhaltens- oder Aktivierungstherapie (CBT/GET) generell einen sinnvollen Behandlungsansatz darstellen könne. Die Leitlinie bleibt in ihrer Qualität deutlich hinter den jüngst revidierten Pendants in Amerika und in den Niederlanden zurück. Die ärztliche Versorgung der ME/CFS-Betroffenen in Deutschland ist weiterhin absolut unzureichend.
Dr. Miguel HattesohlStellvertretender Vorsitzender

Die Leitlinie hat eine Laufzeit bis 2021. Die DG für ME/CFS wird sich auch dann wieder aktiv in die Überarbeitung einbringen und sich nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Leitlinie endlich den Stand der Forschung zutreffend abbildet.

Hintergrund

Ärztliche Leitlinien stammen von den Fachgesellschaften der Ärzte und widmen sich einzelnen Krankheitsbilder. Sie sind rechtlich nicht bindend, stellen aber ein wichtiges Hilfsmittel unter anderem für behandelnde Ärzte dar, zum Beispiel in Hausarztpraxen. Die Leitlinien zeigen einen Entscheidungskorridor auf, in dem der behandelnde Arzt in der Regel davon ausgehen darf, dass dieser Korridor den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht. Für die Leitlinie Müdigkeit ist die DEGAM verantwortlich. Sie ist die Vereinigung der Hausärzte in Deutschland. Die AWMF ist ein Zusammenschluss der Fachgesellschaften. Sie überprüft den Qualitätsstandard von ärztlichen Leitlinien.

Links zu Leitlinie und Hintergrundmaterialien

Stellungnahme der DG für ME/CFS vom 1. Februar 2018

Leitlinie „Müdigkeit“ Nr. 053-002 hier abrufen (ab Seite 40)

Leitlinienreport hier abrufen (Eingaben der DG für ME/CFS auf den Seiten 75–92)