Häufige Missverständnisse gegenübergestellt mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz
1. ME/CFS ist keine Depression oder Burnout, sondern eine schwere körperliche Erkrankung.
ME/CFS ist eine organische Erkrankung. Studienergebnisse deuten auf eine neuroimmunologische Ursache hin, die das (autonome) Nerven- und Immunsystem betrifft sowie den Energiestoffwechsels schwer stört. Viele biomedizinische Anomalien sind inzwischen bekannt. Das klinische Bild (der Symptomkomplex) ist eindeutig von einer Depression oder Burnout abgrenzbar.
2. Von chronischer Erschöpfung zu sprechen, verharmlost die Situation der Betroffenen.
Laut einer Studie der Aalborg Universität aus 2015, ist die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten oft niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Über 60 Prozent sind arbeitsunfähig. Die Erkrankung wurde in Einzelfällen offiziell als Todesursache bei jungen Menschen dokumentiert.
Das Leitsymptom der Erkrankung ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM) – eine massive Verschlechterung aller Symptome nach geringer Anstrengung, dies kann körperliche oder kognitive Aktivität sein. Die Verschlechterung tritt typischerweise schon nach geringer Belastung wie wenigen Schritten Gehen auf. Schon kleine Aktivitäten wie Zähneputzen, Duschen oder Kochen können zur Tortur werden; Besorgungen im Supermarkt anschließend zu tagelanger Bettruhe zwingen. Die Post-Exertional Malaise, von den Patienten auch „Crash“ genannt, kann jeweils Tage oder Wochen anhalten oder auch zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung führen. Die Post-Exertional Malaise ist für ME/CFS charakteristisch, kann die Krankheit gut von anderen Krankheitsbildern abgrenzen und steht immer stärker im Fokus der Forschung.
Zwei weitere Hauptsymptome sind eine grippeartige, krankhafte Schwäche (Fatigue), die typischerweise nicht oder kaum durch Ruhephasen und Schlaf gelindert wird. Sowie Probleme zu stehen oder zu sitzen, da der Kreislauf nicht mehr richtig funktioniert (orthostatische Intoleranz).
Zusätzliche Symptome können außerdem sein: Tachykardien (Herzrasen), neurokognitive Symptome wie Brain Fog, Kopfschmerzen und Sprachstörungen, Muskelschmerzen und -schwäche, schwere Schlafstörungen und immunologische Symptome wie ein schweres Krankheitsgefühl, Halsschmerzen, leichtes Fieber und geschwollene Lymphknoten.
3. Ehemals empfohlene Aktivierungstherapie (Graded Exercice Therapie, GET) und Psychotherapie sind keine wirksamen Therapien.
Aufgrund des Leitsymptoms Post-Exertional Malaise sind Aktivierungstherapien kontraindiziert und können den Zustand der Erkrankten erheblich verschlechtern. Studien mit einem zweitägigen kardiologischen Belastungstest (CPET) belegen, dass ME/CFS-Erkrankte am zweiten Tag wesentlich weniger Energie aufwenden können als gesunde Probanden. Diese Laborbefunde werden durch Umfragen unter Erkrankten bestätigt. Viele Patienten sind aufgrund von Aktivierungstherapien bettlägerig geworden oder auf einen Rollstuhl angewiesen.
Die englische PACE-Studie, die angab, angeblich die Wirksamkeit von Aktivierungs- und Verhaltenstherapie festgestellt zu haben und weltweit Eingang in offizielle Empfehlungen fand, wurde in den letzten Jahren wissenschaftlich widerlegt. In der Folge hat die US-Gesundheitsbehörde CDC Aktivierungs- und Verhaltenstherapie 2017 aus den Behandlungsempfehlungen gestrichen.
4. ME/CFS lässt sich klar diagnostizieren.
ME/CFS hat inzwischen einen klar definierten Symptomkomplex und ist klinisch über eine ausführliche Anamnese diagnostizierbar. Etablierte Diagnosekriterien sind die Kanadischen Konsenskriterien oder Internationalen Konsenskriterien. Zwar gibt es bisher noch keine zuverlässigen Biomarker, aber auch andere Krankheiten werden über den Symptomkomplex und weitere Auschlussdiagnostik diagnostiziert. So sind z. B. bei bestimmten Formen der rheumatoiden Arthritis Biomarker nur in 70 Prozent der Fälle zu finden. Ursachen und Pathomechanismus (der Krankheitsprozess im Körper) sind bei ME/CFS genauso erforschbar wie bei jeder anderen Krankheit.
5. ME/CFS ist keine seltene Krankheit.
ME/CFS ist nicht selten. Die Krankheit ist in der Häufigkeit vergleichbar mit Multipler Sklerose. In Deutschland leben ca. 250.000 Menschen mit ME/CFS (17–30 Millionen weltweit). Als Vergleich: In Deutschland sind ca. 86.000 Menschen an HIV erkrankt.
6. ME/CFS ist seit über 50 Jahren als neurologische Krankheit klassifiziert und keine neue Erkrankung.
ME/CFS ist keine moderne Krankheit. ME/CFS wurde das erste Mal akademisch in den 1930er Jahren nach einem Clusterausbruch in einem Krankenhaus in Los Angeles beschrieben. Der Name Myalgische Enzephalomyelitis wurde nach einem Clusterausbruch in einem Krankenhaus in London in den 1950er Jahren geprägt, die Bezeichnung Chronisches Fatigue-Syndrom kam nach einem Ausbruch am Lake Tahoe in den 80ern hinzu. Seit 1969 wird die Erkrankung von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als neurologische Krankheit klassifiziert.
7. ME/CFS ist kein langweiliges oder umstrittenes, sondern wissenschaftlich ein überraschend spannendes und sehr wichtiges Thema.
ME/CFS ist ein komplexes Thema mit einer bewegten Geschichte. International beginnt in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel – immer mehr biomedizinische Forschungszentren an Universitäten wie Stanford und Harvard entstehen, Nobelpreisträger beteiligen sich an der Ursachensuche, Regierungen werden tätig, Medien und Öffentlichkeit werden auf die Versorgungskrise aufmerksam. In Deutschland fand 2020 das erste Parlamentarische Fachgespräch über ME/CFS im Bundestag statt. Das Europäische Parlament forderte die Kommission und Mitgliedstaaten auf, die Erkrankung biomedizinisch zu erforschen, Fachpersonal weiterzubilden sowie die Bevölkerung aufzuklären. Auch der preisgekrönte Dokumentarfilm Unrest und die weltweite Kampagne #MillionsMissing erregen Aufmerksamkeit.