
Informationsblatt – Begleitende Psychotherapie bei ME/CFS
Das Wichtigste zusammengefasst
- ME/CFS ist eine schwere, somatische Erkrankung mit Leitsymptom der Post-Exertionellen Malaise (PEM). Die Diagnose erfolgt anhand eines klar definierten Symptomkomplexes und wird anhand etablierter klinischer Diagnosekriterien gestellt.
- Psychotherapie stellt keine kausale oder kurative Behandlungsform von ME/CFS dar.
- Unzureichende Kenntnisse zu dem Krankheitsbild können zu Fehldiagnosen und anschließenden Fehltherapien führen.
- Psychotherapie kann unter der Voraussetzung eines adäquaten Krankheitsverständnisses hilfreich im Sinne des Erlernens von Pacing-Strategien und im Rahmen der Krankheitsverarbeitung sein.
- Bei jeglicher therapeutischen Intervention gilt der Leitsatz “Pacing first”, um eine (ggf. dauerhafte) Zustandsverschlechterung im Sinne einer PEM und eine Krankheitsprogression zu vermeiden.
Die Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine chronische organische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. Sie wird von der WHO seit 1969 als neurologisch eingestuft (ICD-10-GM G93.3). Heute wird ME/CFS als neuroimmunologische Erkrankung verstanden.
ME/CFS tritt häufig postinfektiös nach diversen viralen Erregern wie dem Epstein-Barr-Virus, Influenzaviren oder SARS-CoV-2 auf, aber auch andere Auslöser, z. B. nach Operationen, sind beschrieben. Hauptmerkmal von ME/CFS ist das Leitsymptom Post-Exertionelle Malaise (PEM), welche die Verschlechterung aller Symptome nach körperlicher (inkl. orthostatischer), kognitiver und emotionaler Aktivität beschreibt. Die belastungsinduzierte Symptomverschlechterung tritt dabei oft erst verzögert auf (bis zu 48 Stunden) und ist in der Regel über Stunden bis Tage anhaltend Von den Erkrankten wird die PEM oft als „Crash“ bezeichnet. Typische Symptome sind:
- Fatigue (krankhafte Schwäche), die durch Ruhephasen und Schlaf nicht gelindert wird
- Großflächige, wandernde Muskel-, Gelenk-, Nerven- und/oder Kopfschmerzen
, - Neurokognitive Symptome: Konzentrations-, Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen (auch als „Brain Fog“ bezeichnet)
- Schwerwiegende Schlafstörungen (Durchschlafstörungen, leichter und unerholsamer Schlaf, gestörter Tag-Nacht-Rhythmus)
- Orthostatische Intoleranz: Kreislaufregulationsstörungen im Stehen oder Sitzen mit verminderter Hirndurchblutung, einhergehend mit Schwindel, Unwohlsein, Tachykardie, Palpitationen, Blässe, auch in Form von PoTs (Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom)
- Neurologische Störungen: ausgeprägte Reizsensibilität, vor allem gegenüber Geräuschen und Licht, ataktische Störungen, Faszikulationen, Blasenfunktionsstörungen u. a.
- Immunologische Symptome wie z. B. Halsschmerzen, Fiebrigkeit, grippales Gefühl und geschwollene Lymphknoten
Die PEM geht mit einer rapiden Reduktion des verbliebenen Funktionsniveaus einher, die Tage oder Wochen andauern kann. Sie kann zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung – bis hin zur kompletten Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit – führen. PEM kann bereits nach leichten alltäglichen Tätigkeiten auftreten (Unterhaltungen, Spaziergänge, Arztbesuche; bei schweren Verlaufsformen kann PEM bereits durch Berührung, visuelle Reize oder Geräusche ausgelöst werden).
Für mehr Informationen siehe Informationsblätter ME/CFS – Übersicht sowie ME/CFS –Diagnose, Behandlung und Hinweise zur Betreuung.
Psychotherapie kann ME/CFS nicht „heilen“
Die mit ME/CFS einhergehenden organischen – immunologischen, vaskulären und metabolischen – Veränderungen sowie die pathologische Reaktion auf Aktivität (PEM) sind in wissenschaftlichen Studien eindeutig nachgewiesen. Die Annahme einer psychogenen Ursache der Erkrankung widerspricht dem wissenschaftlichen Konsens zu ME/CFS. Die Diagnosestellung erfolgt klinisch anhand etablierter Diagnosekriterien wie z. B. den Kanadischen Konsensuskriterien (CCC) und dem individuellen Fall angepasster Differentialdiagnostik.
Unter internationalen Gesundheitsbehörden und ME/CFS-Expert*innen herrscht Konsens, dass Behandlungsansätze, die von dysfunktionalen Gedankenmustern oder einer Dekonditionierung als ursächliche bzw. aufrechterhaltende Faktoren der Krankheit ausgehen, keine Evidenzgrundlage haben und ein erhebliches Schadenspotential bergen. So sollen körperliche Trainingsprogramme mit gradueller Leistungssteigerung (Graded Exercise Therapy – GET) oder Konzepte kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) mit kurativer Absicht nicht mehr angewandt werden. An dieser Stelle sei auf die aktuelle NICE-Leitlinie zu ME/CFS und den IQWiG-Bericht zum aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS verwiesen.
Das Potential von unterstützender Psychotherapie
Bislang gibt es keine kurative Therapie für ME/CFS, Erkrankte müssen folglich mit einer erheblichen Krankheitslast umgehen. Weltweit werden erste klinisch-medikamentöse Studien initiiert. Durch die COVID-Pandemie sind die Fallzahlen von ME/CFS erheblich gestiegen.
Zur Vermeidung von PEM (Post-Exertionelle Malaise) wird ein konsequentes Energiemanagement in Form von „Pacing“ empfohlen. Pacing bedeutet das strikte Einteilen der eigenen Energieressourcen und Aktivitäten. Beim Pacing geht es darum, unterhalb der durch die Krankheit vorgegebenen pathologischen Belastungsgrenze zu bleiben, um keine PEM bzw. „Crashs“ auszulösen und so eine Verschlechterung der Symptomatik und des Gesundheitszustands zu verhindern. Im Zentrum des Pacings steht die Schonung der verbleibenden Kraftressourcen. Ziel des Pacings ist NICHT, die Belastungsgrenze auszuweiten, sondern eine weitere Krankheitsprogression aufzuhalten und Lebensqualität zu erhalten. Die unter diesen Umständen, noch bewältigbaren Aktivitäten sind von Person zu Person unterschiedlich. Ein kleiner Teil (< 40 %) kann noch begrenzt einer beruflichen Tätigkeit nachgehen oder – in der Regel mit vielen Pausen – leichte Haushaltstätigkeiten erledigen, wohingegen schwer Erkrankte komplett auf Pflege angewiesen sind und allein das Aufsetzen im Bett, aber auch Reize wie Licht, Lärm und Berührungen schon eine Überlastung darstellen können. Weiterführende Informationen zu “Pacing” finden Sie unter mecfs.de/Pacing.
Psychotherapie kann an ME/CFS leidende Patient*innen darin unterstützen, Pacing-Strategien zu erlernen, um einer Verschlechterung des Zustands und der Symptomatik vorzubeugen und im besten Fall ein Minimum an Teilhabe und Alltagsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Zusätzlich kann sie – insbesondere bei schwerer Erkrankung – im Umgang mit einhergehenden Verlusten und Trauer entlastend unterstützen.
Wie bei anderen schweren chronischen Erkrankungen auch, stellt für viele Betroffene (und Angehörige) die durch ME/CFS stark eingeschränkte Lebensqualität eine starke Belastung dar. Psychische Erkrankungen (z. B. Depression) können insofern reaktiv bzw. als Begleiterscheinung von ME/CFS auftreten. Viele Betroffene haben darüber hinaus bereits stigmatisierende Erfahrungen durch Ärzt*innen und Psycholog*innen, aber auch durch ihr persönliches Umfeld erlebt, welche das Selbstbild beeinträchtigen und die Lebensqualität weiter verringern können.
Um mit den erkrankungs-, aber auch umfeldbedingten psychischen Belastungen umzugehen, kann begleitende Psychotherapie, unabhängig vom angewendeten Richtlinienverfahren, als unterstützende Maßnahme hilfreich sein. Grande et al. (2023) formulieren folgende zentrale Inhalte der psychotherapeutischen Arbeit mit ME/CFS-Betroffenen:
- Die Einführung und Einübung in das Prinzip von Pacing: Die Wahrnehmung von individuell bedeutsamen Belastungssituationen und ihrer zeitversetzten Folgen in Form von Crashs; die Antizipation solcher Folgen und die Steuerung des aktuellen Verhaltens im Hinblick darauf.
- Auseinandersetzung mit den inneren Widerständen gegen die oft massiven Einschränkungen, die Pacing Betroffenen abfordert und deren Beachtung von ihnen eine mehr oder weniger strenge Selbstdisziplin verlangt.
- Auseinandersetzung mit negativen Zuschreibungen und Reaktionen, die Pacing in der sozialen Umgebung hervorruft und die u. U. die sozialen Ressourcen bedrohen, Möglichkeiten der selbstfürsorglichen Abgrenzung gegenüber sozialem Druck; Erkennen und Nutzen verfügbarer Ressourcen.
- Existentielle Themen, die das Betroffensein von einer schweren, chronischen und nicht selten invalidisierenden Erkrankung mit sich bringt; therapeutische Begleitung und Aushalten des damit verbundenen Leids.
Der komplette Artikel von Grande et al. (2023) findet sich in deutscher Übersetzung unter: mecfs.de/begleitende-psychotherapie-bei-me-cfs
Die psychotherapeutische Betreuung erkrankter Kinder und Jugendliche stellt eine besondere Herausforderung dar. Die krankheitsbedingten Einschränkungen können zu Verlust der sozialen Interaktionsmöglichkeiten mit Gleichaltrigen führen, den Schulbesuch und sogar häusliche Beschulung aufgrund der Symptomlast verhindern. Bei fälschlicher Psychologisierung ihrer Beschwerden und psychischen Fehldiagnosen drohen schlimmstenfalls gravierende psychosoziale Folgen v.a. bei unzureichenden Kenntnissen zu ME/CFS von Seiten der Behandler*innen. Zur Aufklärung, Diagnostik und Begleitung von Pacing-Strategien bieten sich kindgerechte Materialien an, wie sie z. B. von der Münchner Elterninitiative ME/CFS-kranker Kinder und Jugendlichen (mecfs-kinder-muc.de) bereitgestellt werden.
Differenzierung zwischen psychischen Erkrankungen und ME/CFS
Der 2023 erschienene IQWiG-Bericht zum aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS hält fest: “[…] die begrenzte Berücksichtigung der Erkrankung in der Ausbildung der Gesundheitsberufe behindern eine bedarfsgerechte Versorgung.” (IQWiG-Bericht 2023, S.177).
Klassische (Screening-)Fragebögen für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder somatoforme Störungen wurden nicht für ME/CFS entwickelt und enthalten Items, die aufgrund ihrer geringen Trennschärfe das Risiko von Missinterpretationen bergen. Dies betrifft vor allem Fragen zu Energieverlust, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie zur Alltagsgestaltung und kann zu Fehldiagnosen ME/CFS-Erkrankter führen. Im Gegensatz zur Depression ist bei ME/CFS-Erkrankten der Antrieb in der Regel nicht vermindert.
Zur Diskriminierung der Angststörung ist zu beachten, dass Störungen des autonomen Nervensystems im neuroimmunologischen Symptomkomplex von ME/CFS enthalten sind. Erhöhte Konzentrationen funktionell aktiver Autoantikörper gegen adrenerge und muskarinerge Rezeptoren des autonomen Nervensystems wurden in Studien bei ME/CFS nachgewiesen und stellen einen der aktuell diskutierten, möglichen Pathomechanismen der Erkrankung dar. Die dysautonome Symptomatik von ME/CFS beinhaltet u. a. Schwindel, Tachykardien, Palpitationen, Dyspnoe, bis hin zu Thermoregulationsstörungen, Miktionsstörungen und Motilitätsstörungen des Gastrointestinaltraktes.
Wenn die Patienten von zeitversetzter Zustandsverschlechterung nach Aktivität berichten, ist ein zusätzliches Screening auf PEM, das Kernsymptom von ME/CFS, z. B. mittels des validierten DSQ-PEM-Screening-Fragebogens und ggf. nachfolgend dem Einsatz des umfangreicheren MBSQ-Fragebogens zur differentialdiagnostischen Einordnung hilfreich. Die Schwere der Erkrankung kann mithilfe der Bell-Skala eingeschätzt werden. Falls die Diagnose nicht bereits gestellt wurde, ist eine weiterführende (fach-)ärztliche Diagnostik sinnvoll. Bei Verdacht auf eine Orthostatische Intoleranz (OI) – die für ME/CFS vermutlich charakteristischste Ausprägung einer dysautonomen Störung – kann der NASA-Lean-Test, der auch zu Hause durchgeführt werden kann, aufschlussreich sein. Konzentrations-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, ein vernebeltes, zähes Denken („Brain Fog“) lassen sich in der weiterführenden neurokognitiven Testung objektivieren. Zu beachten ist, dass die Symptomatik sich nicht nur durch PEM verschlechtern, sondern auch tages- und situationsabhängig fluktuieren kann. Zusätzliche neurologische Symptome wie u. a. ataktische Störungen, Sehstörungen und Sensibilitätsstörungen sind in der Literatur beschrieben.
Wichtige Diagnoseschlüssel
- ME/CFS G93.3
- Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) G90.80
- Zu beachten: G93.3 schließt F48.0 aus
Therapeutisches Setting
Das therapeutische Setting muss an die krankheitsbedingt vorgegebenen Einschränkungen und Bedürfnisse Betroffener angepasst werden und immer darauf ausgelegt sein, keine Zustandsverschlechterung im Sinne einer PEM auszulösen. Es gilt der Grundsatz „Pacing first“.
Dies erfordert, dass physische, kognitive, aber auch emotionale Aktivität sowohl im Alltag als auch während der therapeutischen Sitzungen unter dem krankheitsbedingt begrenzten Aktivitätsniveau gehalten werden muss. Kurze Anfahrtswege, bei Bedarf Barrierefreiheit, verkürzte Sitzungsdauer (aufgrund der begrenzten Konzentrationsfähigkeit), die Möglichkeiten von ambulanten Präsenzterminen, Videosprechstunden oder telefonischen Gesprächen können je nach körperlichem Zustand (Transportfähigkeit) variabel angepasst und genutzt werden. Die Darbietung einer Liegemöglichkeit aufgrund der orthostatischen Intoleranz sowie Anpassungen bei Schmerzen oder vorliegenden Reizempfindlichkeiten (Licht, Geräusche, Düfte) können hilfreich sein, um dies zu ermöglichen. Das persönliche Feedback der Patient*innen, basierend auf Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung, kann dazu beitragen, die optimale Sitzungsgestaltung herauszuarbeiten und ggf. Tage nach der Sitzung auftretende PEM zu vermeiden. Schwerer, haus- oder bettgebundene Betroffene benötigen aufsuchende Angebote wie Hausbesuche oder telemedizinische Versorgung, entsprechend der Empfehlung der im Mai 2024 in Kraft getretenen G-BA Versorgungsrichtlinie (g-ba.de/richtlinien/141/), die ME/CFS- Betroffene unabhängig des Auslösers ihrer Erkrankung einschließt. Da Infektionen häufig Zustandsverschlechterungen auslösen können, sollte auf Infektionsschutz der Betroffenen – z. B. durch beidseitige Maskennutzung und Luftfilter – geachtet werden.
Eine therapeutische Begleitung kommt im Rahmen der Betreuung Schwerstbetroffener an Grenzen. Aufgrund einer starken sensorischen Reizempfindlichkeit können bereits Sprache, Berührung oder weitere sensorische Einflüsse eine weitere Zustandsverschlechterung verursachen. Kurze Anrufe, oder auch der Austausch über E-Mail (z.B. zur Beantwortung über E-Mail versendeter Gedanken des Betroffenen) oder Messenger-Dienste können eine sehr vorsichtige, aber oft psychisch überlebenswichtige Möglichkeit des Kontakts bedeuten. Ein Artikel zur Versorgung Schwerstbetroffener von Montoya et al. ermöglicht Einblicke in die Realität Schwerstbetroffener und kann zu einem besseren Verständnis der Situation Schwerstbetroffener und ihrer Angehörigen herangezogen werden. Er findet sich in deutscher Übersetzung unter: mecfs.de/versorgung-schweres-mecfs.
Suizidalität bei ME/CFS
Eine ME/CFS-Erkrankung geht oftmals mit einer sehr niedrigen Lebensqualität, einer unzureichenden Versorgungssituation und Stigmatisierungserfahrungen einher. Studien deuten auf eine erhöhte Suizidalitätsrate ME/CFS-Erkrankter hin. In der Literatur ist belegt, dass je stärker die ME/CFS-Symptomatik, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, Suizidgedanken zu entwickeln (Johnson et al., 2020). In einer 2024 publizierten Schweizer Studie, basierend auf einer Umfrage unter 169 ME/CFS-Betroffenen in der Schweiz, berichteten ca. 40 % der Betroffenen von suizidalen Gedanken. Als ursächlich für die Suizidgedanken benannten die Betroffenen folgende Faktoren in absteigender Reihenfolge: 1) dass ihnen gesagt wurde, die Erkrankung sei rein psychosomatisch, 2) dass sie am Ende ihrer Kräfte sind und 3) das Gefühl zu haben, von anderen nicht verstanden zu werden. Dies sollte in der Psychotherapie berücksichtigt werden.
Weitere Informationsblätter zu den Themen Übersicht, Diagnose und Behandlung, Pacing und mehr finden Sie unter: mecfs.de/Informationsblatt