Deutscher Bundestag

Stellungnahme zur Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage

Kleine Anfrage der Grünen zur Pflege und Versorgung von Menschen mit Long COVID und ME/CFS in Reha-Kliniken

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS nimmt Stellung zur Antwort der Bundesregierung

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat eine Kleine Anfrage mit dem Titel „Pflege und Versorgung in Rehabilitationskliniken während der Corona-Pandemie“ an die Bundesregierung gestellt. Es handelt sich um 33 Fragen zu den Themen Reha-Einrichtungen, statistische Daten, Maßnahmen, Forschungsvorhaben und auch ME/CFS. Im Namen der Bundesregierung antwortete Ende September die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

ME/CFS wird explizit in den Fragen 3, 26 und 28 thematisiert und ist durch die Überschneidungen zu Long COVID auch darüber hinaus relevant.

Die Bundesregierung hat keine Daten zu ME/CFS und Long COVID

Auf die Frage, wie viele ambulante und stationäre Behandlungsplätze sowie Reha-Einrichtungen es derzeit in Deutschland für Patient*innen mit ME/CFS gibt, antwortet die Bundesregierung, dazu lägen ihr keine Daten vor.

Zudem liegen der Bundesregierung nach eineinhalb Jahren Pandemie „keine eigenen Kenntnisse über das Angebot an Post- bzw. Long-COVID-Ambulanzen vor“. Wie bisher verweist die Bundesregierung stattdessen auf eine Liste, die von der Initiative Long COVID Deutschland – ein privater Zusammenschluss aus Betroffenen – erstellt wurde.

Long COVID Deutschland erklärte in einer Pressemitteilung: „Wir machen ehrenamtlich die Arbeit, für die eigentlich die Bundesregierung zuständig ist.“

 

Die Bundesregierung verkennt die Versorgungskrise

Die Bundesregierung trifft zur Rehabilitation bei „Post-COVID-CFS“ bzw. ME/CFS folgende Aussage: „Mit den bestehenden Konzepten kann den Betroffenen ein gutes Angebot gemacht werden.“

Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Bundesregierung zu dieser Einschätzung kommt. Für ME/CFS gibt es aufgrund mangelnder Forschung noch keine zugelassene Behandlung. ME/CFS-Patient*innen treten eine Reha nicht – wie bei anderen Erkrankungen – nach einer klinischen Behandlung an, sondern im akut kranken Zustand. Zudem gibt es bisher keine Reha-Maßnahmen, für deren Wirksamkeit bei ME/CFS Evidenz vorliegt. Im Gegenteil: Inzwischen gilt als wissenschaftlich gesichert, dass die üblichen Reha-Maßnahmen, die auf Aktivierung und Aufbautraining beruhen und bei anderen Erkrankungen hilfreich sein können, bei ME/CFS nicht wirksam sind und sogar schaden können. Aufgrund des Leitsymptoms von ME/CFS, der Post-Exertional Malaise (eine belastungsinduzierte Symptomverschlechterung), sind aktivierende Therapien kontraindiziert. Viele ME/CFS-Patient*innen berichten durch Reha-Maßnahmen eine Zustandsverschlechterung erlitten zu haben. Schwer und schwerst an ME/CFS Erkrankte sind darüber hinaus zu krank, um anzureisen oder an einem Reha-Programm teilzunehmen. Sie sind hausgebunden oder bettlägerig.

ME/CFS führt bislang bei über 60 Prozent der Erkrankten zur vollen oder teilweisen Erwerbsminderung und gilt bei Jugendlichen als häufigster Grund langer Schulfehlzeiten. Der wirtschaftliche Schaden durch ME/CFS wird – ausgehend von Zahlen des europäischen Forschungsnetzwerks EUROMENE, die auch vom EU-Parlament zitiert werden – für Deutschland auf über sieben Milliarden Euro im Jahr geschätzt. In dieser Berechnung sind die Auswirkungen von Long COVID noch nicht inbegriffen. Es gibt für die – oft noch jungen – Erkrankten bislang kein „Angebot“, um der potenziellen Erwerbsminderung, Schwerbehinderung oder Pflegebedürftigkeit entgegenzuwirken.

 

Das Leitsymptom Post-Exertional Malaise muss in den Fokus gerückt werden

Die Bundesregierung thematisiert in ihren Ausführungen kein Mal die Post-Exertional Malaise, das Leitsymptom von ME/CFS. Dies ist im Kontext von Reha-Maßnahmen jedoch ein entscheidendes Kriterium, um festzustellen, welche Patient*innen von Aktivitätsprogrammen profitieren und wem sie schaden können.

Die physiologische Belastungsintoleranz und die potenziell negativen Auswirkungen von körperlicher und kognitiver Aktivierung sind für ME/CFS in Studien und Umfragen bestätigt worden. Daher wird Pacing, das strikte Einhalten der eigenen Energie- und Belastungsgrenzen, inzwischen von Gesundheitsbehörden weltweit für ME/CFS empfohlen – beispielsweise auf einem Merkblatt der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und im Entwurf der neuen ME/CFS-Leitlinie des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE).

Studien zeigen, dass eine Subgruppe der Long-COVID-Erkrankten nach 6 Monaten die Kriterien für ME/CFS erfüllt. Für diese Subgruppe sind – wie auch für ME/CFS-Patient*innen – die üblichen aktivierenden Therapien, die bei anderen Erkrankungen hilfreich sind, kontraindiziert. Auch in den Fällen, in denen die Kriterien für eine ME/CFS-Diagnose (noch) nicht erfüllt sind, empfehlen Gesundheitsbehörden Pacing, sobald eine Belastungsintoleranz auftritt. Dies legen beispielsweise die „Empfehlungen zur Unterstützung einer selbstständigen Rehabilitation nach COVID-19-bedingter Erkrankung“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie die S1-Leitlinie zu Post-COVID/Long-COVID und die dazugehörige Patientenleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) dar.

Es ist daher grundlegend wichtig, Long-COVID-Patient*innen auf das Vorliegen von Post-Exertional Malaise zu screenen. Der validierte 10-teilige DePaul-Symptom-Fragebogen zu Post-Exertional Malaise kann Ärzt*innen helfen, das Vorliegen sowie die Häufigkeit und Intensität der belastungsindizierten Zustandsverschlechterung zu erfassen. Falls Post-Exertional Malaise vorliegt, sind die persönlichen Belastungs- und Energiegrenzen strikt einzuhalten. Patient*innen müssen über das oft zeitverzögerte Auftreten von Post-Exertional Malaise aufgeklärt werden. Beim Pacing können – wie auf dem oben verlinkten Merkblatt der CDC genannt – Pulsmesser und Aktivitätstagebücher hilfreich sein.

Durch das frühzeitige Erkennen von Post-Exertional Malaise und evidenzbasierten Empfehlungen zum Management (Pacing), erhalten Menschen mit ME/CFS und Long COVID die bestmögliche Chance, das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten und ihre verbliebene Funktionsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern.

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat – wie auch Long COVID Deutschland – seit Beginn der Pandemie Reha-Kliniken kontaktiert und informiert. Diese Verantwortung kann jedoch nicht länger auf Patientengruppen abgeschoben werden. Es ist dringend erforderlich, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Bundesregierung sicherstellen, dass die Deutsche Rentenversicherung, Gutachter*innen und Reha-Einrichtungen groß angelegt über den aktuellen Wissensstand zu ME/CFS und Post-Exertional Malaise informiert werden.

Zudem wird ME/CFS fälschlicherweise in der gültigen Leitlinie der Deutschen Rentenversicherung „Sozialmedizinische Begutachtung bei psychischen und Verhaltensstörungen” in einem eigenen Abschnitt zu psychischen Krankheiten behandelt, obwohl es sich um eine organische Erkrankung handelt. Hier ist die Deutsche Rentenversicherung aufgefordert, dringend Abhilfe zu schaffen.

 

Anstatt von vorne anzufangen, sollte auf das Wissen zu ME/CFS aufgebaut werden

Die Bundesregierung gibt an, eine Interministerielle Arbeitsgruppe zu Long COVID unter Federführung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eingerichtet zu haben, die sich seit Juni 2021 6-mal traf. Zudem habe das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Anfang Juli die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. gebeten, quantitative und qualitative Daten zur Versorgungslage von Long-COVID-Betroffenen aller Reha-Träger zu erheben.

Es ist unerlässlich, dass ME/CFS – für das es auch über 50 Jahre nach Klassifizierung durch die WHO keine solcher Anstrengungen gibt – miteinbezogen wird. Grundlegende Termini und Konzepte von ME/CFS wurden inzwischen für Long COVID übernommen, wie Post-Exertional Malaise, Brain Fog und Pacing. Es ist für alle Beteiligten zielführend, auf 50 Jahre Wissen zu ME/CFS aufzubauen und Subgruppen von Long COVID zu identifizieren.

Im September hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Vergabe von Förderung an 10 Forschungsprojekte zu Long COVID bekannt gegeben. Auch bei diesen wird ME/CFS nicht miteinbezogen. Wissenschaftler*innen, die an Long COVID forschen, sollten sich mit der ME/CFS-Forschung vertraut machen, um nicht von vorne anzufangen. Es gibt viele Überschneidungen der bisherigen Forschungsergebnisse zu Long COVID und ME/CFS, wie Autoantikörper und Hinweise auf eine eingeschränkte Verformbarkeit der roten Blutkörperchen, einen regional reduzierten Hirnstoffwechsel oder eine verringerte periphere Sauerstoffverwertung.

ME/CFS könnte im Rahmen einiger der geförderten Projekte parallel erforscht werden. Ein Beispiel ist das Projekt RECOVER, das Autoantikörper im Blut von Long-COVID-Patient*innen untersucht – die ebenfalls in einer Subgruppe von ME/CFS-Patient*innen auftreten. Als möglicher therapeutischer Ansatz wird die Wirkung der Substanz BC 007 im Rahmen einer klinischen Pilotstudie überprüft. Einer der vier erfolgreichen Heilversuche im Vorfeld wurde mit einem Long-COVID-Patienten durchgeführt, der auch die ME/CFS-Kriterien erfüllte. Die Koordinatorin der geförderten Studie PD Dr. Dr. Bettina Hohberger wäre daran interessiert, parallel eine Studie mit ME/CFS-Patient*innen durchzuführen, doch fehlt die Förderung.

Für das Projekt SPOVID, das ein individuell abgestimmtes Trainingsprogramm für Long-COVID-Patient*innen erproben will, um ihre körperliche Ausdauer zu verbessern, ist dagegen zum Schutz der Proband*innen angezeigt, das Vorliegen von Post-Exertional Malaise zu prüfen.

Deutschland stellt eine Förderung in Höhe von 6,5 Millionen Euro für Long-COVID-Forschung bereit, demgegenüber stehen Förderungen von 23 Millionen Euro in Großbritannien, 967 Millionen Euro in den USA und 10,7 Millionen Euro in den Niederlanden.

 

Fazit

Wäre ME/CFS nicht jahrzehntelang vernachlässigt worden, wäre die Politik nicht von den Langzeitfolgen von SARS-CoV-2 überrascht worden. Im Forum Science for ME, in dem sich Menschen mit ME/CFS, Wissenschaftleri*innen und weitere Interessierte austauschen, wurde bereits im Januar 2020 ein Thread zum Thema gestartet, wie viele Menschen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 an ME/CFS erkranken werden. Frau Prof. Scheibenbogen von der Charité Berlin warnt seit Mai 2020 vor den Langzeitfolgen.

Die Bundesregierung offenbart dagegen auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie einen erheblichen Mangel an Kenntnissen und Bewusstsein hinsichtlich der katastrophalen Versorgungs- und Forschungslage, der zerstörerischen Auswirkungen von Long COVID und ME/CFS auf die Leben der Erkrankten sowie die Folgen für die Gesellschaft. Der „postvirale Tsunami“, wie Journalist George Monbiot Long COVID und ME/CFS nennt, wird drastisch unterschätzt, dadurch verschärft sich die Lage weiter. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS fordert die Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung nachzukommen und dringend notwendige Maßnahmen zu ergreifen.

 

Hintergrund

Kleine Anfragen sind ein Mittel parlamentarischer Kontrolle gegenüber der Bundesregierung. Die Bundesregierung ist verpflichtet, innerhalb von in der Regel 14 Tagen die Fragen vollständig zu beantworten und gegebenenfalls notwendige Informationen dafür innerhalb der Verwaltung zu beschaffen.

 

Redaktion: jhe
Editor: csc, dha