Hand beim Ausfüllen eines Fragebogens

Studie zur Stigmatisierung von ME/CFS

Studie zur Stigmatisierung von Menschen mit ME/CFS

Titel der Studie: Causal Attributions and Perceived Stigma for Myalgic Encephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome

Autor*innen: Laura Froehlich (FernUniversität in Hagen), Daniel B. R. Hattesohl (Deutsche Gesellschaft für ME/CFS), Joseph Cotler (DePaul University, USA), Leonard A. Jason (DePaul University), Carmen Scheibenbogen (Charité Berlin), Uta Behrends (Technische Universität München)

Journal: Journal of Health Psychology, veröffentlich am 09.07.2021

Thema: Ursachenzuschreibungen des sozialen Umfelds für ME/CFS, empfundene Stigmatisierung und Gesundheitszustand der Betroffenen

Methoden und Teilnehmende: Diese Studie ist aus derselben Online-Umfrage aus dem Frühsommer 2020 entstanden wie die bereits publizierte Studie zur medizinischen Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland. Die Stichprobe bestand aus 499 Personen mit ME/CFS, die die Kanadischen Konsenskriterien (CCC) erfüllten und mehr als 14 Stunden Post-Exertional Malaise (PEM) nach Belastung berichteten. Drei Viertel der Stichprobe waren weiblich, das mittlere Alter betrug 47 Jahre (von 18 – 76). Bei drei Viertel begann ME/CFS nach einem Infekt. Eine ausführliche deutschsprachige Zusammenfassung der Ergebnisse zur Demographie und zur medizinischen Versorgungssituation von Menschen mit ME/CFS in Deutschland finden Sie hier.

ME/CFS ist eine körperliche, oft postviral beginnende Erkrankung, für die es bisher keine Biomarker oder abschließend validierte diagnostische Tests gibt. Die Pathomechanismen sind bisher nicht vollständig erforscht, vermutet wird Autoimmunität und eine damit zusammenhängende Dysfunktion des autonomen Nervensystems sowie des Energiestoffwechsels. Die WHO ordnet ME/CFS seit 1969 als neurologische Krankheit ein. Die oft zu schwerer Behinderung führende Erkrankung ist in der Öffentlichkeit und bei medizinischem Fachpersonal nicht hinreichend bekannt.

In früheren Studien hat sich gezeigt, dass Menschen mit ME/CFS stigmatisiert werden, d. h. Menschen aus ihrem sozialen Umfeld (Freunde, Bekannte, Familienmitglieder oder behandelnde Ärzt*innen) reagieren negativ auf die Erkrankung und psychologisieren die ME/CFS-Symptomatik (z. B. Åsbring & Närvänen, 2002; Ware, 1992). Betroffene sind dem Risiko ausgesetzt, dass ihre Erkrankung nicht für eine reale organische Krankheit gehalten wird (Dickenson et al., 2007). Diese Stigmatisierung steht in Verbindung mit dem Empfinden der Betroffenen, nicht genug soziale Unterstützung zu erfahren, und einem schlechteren Gesundheitszustand (McManimen et al., 2018).

Das Ziel der Studie war nun, genauer zu untersuchen, wie es zu dieser wahrgenommenen Stigmatisierung kommt und welche Auswirkungen sie hat. Dafür haben die Autor*innen die wahrgenommenen Ursachenzuschreibungen (Kausalattributionen) für ME/CFS aus dem sozialen Umfeld untersucht. Im nächsten Schritt wurde der Zusammenhang mit der empfundenen Stigmatisierung, der sozialen Zufriedenheit und dem Gesundheitszustand der Betroffenen analysiert.

Vor allem ging es darum, wie die ME/CFS-Betroffenen wahrnehmen, welche Ursachen ihr soziales Umfeld ME/CFS zuschreibt: Wie stark nehmen die Betroffenen wahr, dass ihr Umfeld ihnen die Verantwortung und Schuld für die Erkrankung zuschreibt (Kontrollierbarkeit der Erkrankung)? Wie stark nehmen die Betroffenen wahr, dass ihr Umfeld ME/CFS als veränderlich ansieht (Veränderbarkeit)? Wie stark nehmen die Erkrankten wahr, dass ihr Umfeld ME/CFS als psychische oder organische Erkrankung ansieht (psychisch/organisch)?

Frühere Forschung zu Kausalattributionen bei der Stigmatisierung von Krankheiten (Weiner et al., 1988) fand heraus, dass das Umfeld psychische Erkrankungen als von den Betroffenen kontrollierbar und veränderbar einordnet (z. B. Depressionen, Suchterkrankungen) und organische Erkrankungen als unkontrollierbar und zeitlich stabil einordnet (z. B. Krebs, Blindheit). Betroffene von psychischen Erkrankungen sind also damit konfrontiert, dass ihr soziales Umfeld Kausalattributionen für ihre Erkrankung trifft, die ihnen selbst die Verantwortung für die Erkrankung zuschreiben und davon ausgehen, dass die Symptome der Erkrankung sich verändern lassen.

Die Grundannahme des Forschungsteams war, dass die immer noch weit verbreitete Wahrnehmung von ME/CFS als psychische Erkrankung (hauptsächlich zurückgehend auf inzwischen diskreditierte psychiatrische Forschung aus den 1990er Jahren) mit einem Muster von Kausalattributionen des sozialen Umfelds einhergeht, das den Kausalattributionen für psychische Erkrankungen ähnelt.

Ein weiteres Ziel der Studie war, die Konsequenzen dieser wahrgenommenen Ursachenzuschreibungen für die Betroffenen zu untersuchen. Wenn die Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld eher ungünstige Ursachenzuschreibungen wahrnehmen (also eine hohe Schuldzuschreibung und eine hohe Veränderbarkeit), dann sollte dies mit höherer wahrgenommener Stigmatisierung aufgrund von ME/CFS einhergehen und letztlich mit einem schlechteren Gesundheitszustand und einer niedrigeren Zufriedenheit der Betroffenen mit sozialen Rollen und Aktivitäten.

Die wahrgenommenen Kausalattributionen des Umfelds wurden mit 5 Fragen erfasst: Kontrollierbarkeit („Die Leute sehen mich selbst als verantwortlich für die Erkrankung“, „Die Leute geben mir die Schuld für meine Erkrankung“), Veränderbarkeit („Die Leute sehen meine Erkrankung als veränderbar an“), und körperliche/psychische Ursachenzuschreibungen („Die Leute sehen meine Erkrankung als körperlich an“, „Die Leute sehen meine Erkrankung als psychisch an“). Darüber hinaus gaben die Teilnehmenden auch ihre eigenen Kausalattributionen zu ME/CFS an. Die wahrgenommene Stigmatisierung wurde mit der Stigma Scale for Chronic Diseases (SCCD-8/NeuroQoL) gemessen (8 Fragen, z. B. „Aufgrund meiner Erkrankung haben manche Leute mich gemieden“). Der funktionelle Status wurde mit dem SF-36 Fragebogen zum allgemeinen Gesundheitszustand gemessen. Außerdem wurde die Zufriedenheit mit sozialen Rollen und Aktivitäten mit zwei Skalen aus dem NeuroQoL gemessen (8 Fragen, z. B. „Es macht mir zu schaffen, dass ich in meinen üblichen Aktivitäten mit meiner Familie eingeschränkt bin“, „Ich bin zufrieden mit der Menge an Zeit, die ich mit Freizeitaktivitäten verbringe“).

Was sind die Hauptergebnisse?

Wahrgenommene Ursachenzuschreibungen des sozialen Umfelds für ME/CFS:

Die Teilnehmenden hatten im Mittel den Eindruck, dass ihr soziales Umfeld die Erkrankung eher als veränderbar und psychisch wahrnahm, den Betroffenen selbst aber eine geringe Verantwortlichkeit für die Erkrankung zuschrieb. Es gab also entgegen der Ersthypothese der Autor*innen ein gemischtes Muster der Wahrnehmung von ME/CFS durch das soziale Umfeld sowohl als psychische als auch als organische Erkrankung. Die Betroffenen selbst sahen im Mittel ihre Erkrankung als nicht veränderbar und organisch an und sahen sich im Mittel als nicht verantwortlich für ihre Erkrankung.

Diese Ergebnisse zeigen, dass die Betroffenen teilweise den Eindruck haben, dass ihr soziales Umfeld ihre Erkrankung psychologisiert. Teilweise scheint jedoch auch die Wahrnehmung zu existieren, dass das soziale Umfeld der Betroffenen ME/CFS als organische Erkrankung wahrnimmt. Ein Grund könnte sein, dass veraltete Vorstellungen von ME/CFS als psychosomatische Erkrankung aktuell mit den biomedizinischen Forschungsergebnissen aus den letzten Jahren in der Öffentlichkeit koexistieren.

Konsequenzen der wahrgenommenen Ursachenzuschreibungen:

Weitere Analysen zeigten: Je eher ME/CFS-Betroffene empfanden, dass ihr Umfeld ME/CFS als selbstverschuldet und veränderbar wahrnahm, desto höher war auch die empfundene Stigmatisierung. Die höhere Stigmatisierung ging wiederum mit einem schlechteren Gesundheitszustand und einer niedrigeren Zufriedenheit mit sozialen Rollen und Aktivitäten einher. Diese Ergebnisse zeigen, dass ein ungünstiges Muster von wahrgenommenen Ursachenzuschreibungen des sozialen Umfelds mit höherer Stigmatisierung und negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen für die Betroffenen einhergeht. Eine Aufklärung des medizinischen Personals und der Öffentlichkeit über die organischen Ursachen von ME/CFS ist also dringend nötig, auch um das Stigma und dessen negative Konsequenzen abzubauen.

Wie sind die Ergebnisse zu bewerten?

Die Studie zeigt, dass die Teilnehmenden nur teilweise den Eindruck hatten, dass Personen in ihrem sozialen Umfeld ihre ME/CFS-Erkrankung als psychische Erkrankung wahrnehmen. Wenn dies jedoch der Fall war, hatte dies statistisch signifikant negative Folgen für die Gesundheit und die sozialen Beziehungen der Betroffenen. Die Ergebnisse der Studie zeigen erstmals die vermittelnde Rolle der Stigmatisierung von ME/CFS für diese Zusammenhänge. sollte daher zukünftig in Längsschnittstudien auch im Zeitverlauf überprüft werden.

Referenz:
Froehlich, L., Hattesohl, D. B. R., Cotler, J., Jason, L. A., Scheibenbogen, C., & Behrends, U. (2021). Causal attributions and perceived stigma for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Journal of Health Psychology, 135910532110276. https://doi.org/10.1177/13591053211027631

 

Hier geht es zur Originalstudie.