Eine Collage aus einem Stethoskop, Labormaterial, DNA und einem Fragebogen

ME/CFS – Science Update 10/2018

Unser Science-Update

Das Science-Update für diesen Monat widmen wir der Berichterstattung über das ME/CFS-Symposium an der Universität Stanford, das am 29. September stattfand. 

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Second Annual Community Symposium on the Molecular Basis of ME/CFS – Universität Stanford

(c) OpenMedicine Foundation

Das 2. ME/CFS-Symposium an der Universität Stanford fand am 29. September statt. Der volle Titel lautete: Second Annual Community Symposium on the Molecular Basis of ME/CFS“. Bekannte ME/CFS-Forscher hielten Vorträge, zudem gab es Podiumsdiskussionen. Am Symposium nahmen mehr als 300 Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen und Patient:innen teil. Über einen kostenlosen Livestream verfolgten fast 5.000 weitere Interessierte aus der ganzen Welt die Veranstaltung.

Im Vorfeld des Symposiums fand ein dreitägiges geschlossenes Arbeitsgruppentreffen unter der Leitung von Ron Davis zu den molekularen Grundlagen von ME/CFS an der Universität Stanford statt. Über 50 renommierte Wissenschaftler*innen, darunter die beiden Nobelpreisträger Paul Berg und Mario Capecchi, nahmen teil. Die Wissenschaftler*innen präsentierten ihre aktuellen ME/CFS-Forschungsergebnisse, brainstormten und planten Kooperationen, um die Forschung voranzutreiben. Fotos vom Arbeitsgruppentreffen können hier angesehen werden.


Das öffentliche Symposium fand am Tag nach dem dreitägigen Arbeitsgruppentreffen statt. Insgesamt hatten über 50 ME/CFS-Forscher*innen aus der ganzen Welt vier Tage lang Gelegenheit zum Austausch.  

Das Arbeitsgruppentreffen und Symposium wurden wie im letzten Jahr von der Open Medicine Foundation (OMF) gesponsert.  

Im Folgenden fassen wir die Vorträge des ME/CFS-Symposiums am 29. September zusammen. Das Programm ist hier verfügbar.

 

Einführung Linda Tannenbaum

Linda Tannenbaum, Gründerin und CEO der Open Medicine Foundation (OMF), begrüßte die Teilnehmenden vor Ort und am Livestream. Sie betonte, dass das Ziel sei, einen diagnostischen Test und wirksame Behandlungen zu finden – und das so schnell wie möglich. Seit ihrer Gründung 2012 habe die OMF über 15 Millionen US-Dollar für Forschung gesammelt und 15 Projekte unterstützt, darunter die Gründung der Collaborative ME/CFS Research Center an den Universitäten Stanford und Harvard. Der Ansatz der OMF ist „Open Medicine“ – alle Daten, auch die unveröffentlichten, können auf einer Plattform von Wissenschaftler*innen weltweit eingesehen und genutzt werden. Kollaboration steht im Vordergrund. „Wir sind Eltern mit der Mission unsere Kinder zu retten“, schloss Tannenbaum, deren Tochter an ME/CFS erkrankt ist. „Wir machen weiter, bis wir Antworten haben.“ 

Danach begrüßten Janet Dafoe (Patienten-Liason, Frau von Ron Davis) und Ashley Haugen (Organisatorin des Events, Tochter von Ron Davis) die Teilnehmenden. Beide waren, wie auch Linda Tannenbaum, sichtlich gerührt. Haugen beschrieb, wie ihr Vater, der bekannte Genetiker Ron Davis, ihren schwerst an ME/CFS erkrankten Bruder jeden Tag pflege. Abgesehen davon verwende er seine gesamte Zeit auf die Erforschung von ME/CFS. 

Die Moderation übernahm, wie im letzten Jahr, Raeka Aiyar vom New York Stem Cell Foundation Research Institute. Sie sprach kurz über Stammzellforschung und mögliche zukünftige (noch hypothetische) Implikationen für ME/CFS.

 

Øystein Fluge | Universitätsklinikum Haukeland, Bergen (Norwegen)  

Keynote Speaker war der Onkologe Øystein Fluge vom Institut für Onkologie und Medizinische Physik am Universitätsklinikum Haukeland in Bergen. Sein Vortrag trug den Titel „Klinische Studien und metabolische Merkmale von ME/CFS“. 

Er fasste zunächst die bisherigen klinischen Studien mit dem Rheuma- und Krebsmedikament Rituximab und Chemotherapeutikum Cyclophosphamid zusammen (wir berichteten). Die Studien entstanden aus der klinischen Beobachtung, dass sich wiederholt bei langjährigen ME/CFS-Patient*innen, die zusätzlich an Krebs erkrankten, nach der Krebsbehandlung auch die ME/CFS-Symptome verbesserten. Die Ergebnisse der randomisierten klinischen Phase III-Studie mit Rituximab sind noch nicht veröffentlicht und konnten daher nicht im Detail präsentiert werden, jedoch wies Prof. Fluge erneut darauf hin, dass die Studie keinen systematischen Effekt von Rituximab auf die ME/CFS-Symptome zeigen konnte. Eine aktuelle Phase II-Studie mit Cyclophosphamid wurde gerade ausgewertet. Auch hier sind die Ergebnisse noch nicht verfügbar und es muss eine randomisierte, kontrollierte Phase III-Studie mit Placebo-Gruppe abgewartet werden, bevor die Effektivität von Cyclophosphamid zur Behandlung von ME/CFS beurteilt werden kann.  

Zuletzt ging Prof. Fluge auf die Hypothese ein, dass ME/CFS durch eine Störung des Stoffwechsels zur Energieproduktion erklärt werden kann. Der Grundgedanke ist, dass durch eine Veränderung des Stoffwechsels Zucker nur noch unzureichend in Energie umgewandelt wird. Bei der Energiegewinnung in den Mitochondrien spielt das Enzym Pyruvatdehydrogenase (PDH) eine zentrale Rolle. Wenn die Funktion von PDH reduziert ist, könnten ME/CFS-Patient*innen auf Aminosäuren und Fettsäuren als alternative Prozesse der Energiegewinnung zurückgreifen. Blutproben der Teilnehmenden der klinischen Studien erbrachten Hinweise, die diese Hypothese stützen: Die Levels verschiedener Aminosäuren und Fettsäuren waren bei den Patient*innen reduziert, was auf eine kompensatorische Verwendung zur Aufrechterhaltung der Energieproduktion in den Zellen hinweist. Dies ähnelt den Prozessen, die bei Fasten oder Ausdauertraining ablaufen – jedoch finden sie bei ME/CFS-Patient*innen schon bei minimaler oder keiner Aktivität statt.

 

Wenzhong Xiao| Universität Harvard (USA)  

Wenzhong Xiao, Direktor des Inflammation and Metabolism Computational Center am Massachusetts General Hospital und Assistenzprofessor für Chirurgie an der Harvard Medical School, stellte Ergebnisse der Severely Ill Patient Study vor. Die Studie untersucht schwer betroffene, ans Haus und Bett gebundene ME/CFS-Patienten, die sonst bei Studien außen vor bleiben. Die Idee dahinter ist, dass Fehlfunktionen im Körper von schwer betroffenen Patient*innenen deutlicher ausgeprägt und daher leichter zu finden sein sollten. Die Ergebnisse der Studie können von Wissenschaftler*innen auf endmecfs.stanford.edu eingesehen werden. 

Vergleiche der schwer erkrankten ME/CFS-Patient*innen mit gesunden Kontrollen zeigten ein niedrigeres Aktivitätslevel, gestörten Schlaf (Patient*innen brauchten länger, um Tiefschlafphasen zu erreichen), gestörtes Cortisollevel (der normale Anstieg von Cortisol am Morgen zeigte sich bei den Patient*innen nicht), sowie Veränderungen in Teilen der untersuchten Stoffe im Blut (Zytokine, Stoffwechselprodukte) und in der Darmflora (höhere Vielfalt von Mikroorganismen im Darm bei Patient*innen). Keine Unterschiede zeigten sich bei Infektionen durch Viren oder Bakterien und der Belastung durch Schwermetalle. Zusätzlich wurde das Genom der Patient*innen sequenziert, um die Rolle von genetischen Faktoren zu untersuchen. Eine Netzwerkanalyse durch Computerprogramme soll diese Einzelbefunde zu einem größeren Bild zusammenfügen. Zukünftige Studien sollen auch Ergebnisse anderer Studien in diese Netzwerkanalyse einbeziehen.

 

Jonas Bergquist | Universität Uppsala (Schweden)  

Jonas Berquist von der Uppsala Universität in Schweden, Professor für Analytische Chemie und Neurochemie und Mitglied der EUROMENE Biomarker Gruppe, stellte seine aktuelle Forschung vor. Sein Team beschäftigt sich vor allem mit dem neuroimmunen Aspekt von ME/CFS. Berquist erklärte, dass das Nervensystem und das Immunsystem kontinuierlich auf drei Wegen miteinander kommunizieren: über Neurotransmitter, über Hormone und über das autonome Nervensystem. So beeinflusst das Gehirn die Immunfunktion und umgekehrt Immunzellen über den Ausstoß von Neurotransmittern (wie Dopamin) auch das Gehirn. Berquist Team misst auf verschieden Wegen Proteine, Neurotransmitter, Hormone und Antikörper bei erkrankten Patient*innen. U.a. mit extrem empfindlichen Massenspektrometern und Antikörper-Essays.

Das Team untersuchte den Liquor (Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit) von 24 schwedischen ME/CFS-Erkrankten und 24 Fibromalgie-Patient*innen. Diese wurden mit den Werten von 35 Gesunden verglichen. In ME/CFS und Fibromyalgie fanden sich 25 veränderte Proteine im Liquor sowie eindeutige Zeichen auf Neuroinflammation (Nervenentzündungen). Im Blutplasma fanden sich hingegen nur leicht erhöhte Entzündungsmarker. In einer zweiten Studie untersuchte das Team diverse Steroidhorme. Dazu wurde das Blutplasma von 24 ME/CFS-Patient*innen mit dem von 24 gesunden Kontrollen verglichen. Interessanterweise war das Hormon Pregnenolon erniedrigt, ein Neurosteorid des Gehirns, das in den Mitochondrien produziert wird. Zusätzlich fahndeten die Wissenschaftler*innen nach erhöhten Autoantikörper und Autoimmunität. Hier wurden 48 Betroffene mit 24 Kontrollen verglichen. Berquist konnte dabei die Ergebnisse von Madlen Loebel et al. an der Charité bestätigen, dass Autoantikörper gegen adrenerge ß1/ß2-Rezeptoren und gegen muskarinerge M1/M3/M4-Rezeptoren im Blutplasma von ME/CFS-Kranken erhöht scheinen. 

Insgesamt fand das Team Hinweise auf eine chronische Inflammation in der Hirnflüssigkeit, eine verminderte Produktion von Pregnolonen und erhöhte Autoantikörper gegen diverse Rezeptoren. Das lässt auf ein inflamatorisches/autoimmunes Geschehen bei ME/CFS schließen. 

 

Alain Moreau | Universität Montréal (Kanada)  

Alain Moreau, Professor für Stomatologie und Biochemie an der Universität Montreal, besprach in seinem Vortrag die Rolle von MicroRNAs in ME/CFS. MicroRNA sind kleine DNA-ähnliche Moleküle, die als Genregulatoren im Körper fungieren. Moreau hält ME/CFS für eine Spektrumkrankheit, das macht die Erforschung der Krankheit schwieriger. Ebenso, dass die Patient*innen in verschiedenen Stadien der Krankheit zur Untersuchung in sein Labor kommen.

Moreau stellt die Hypothese auf, dass MicorRNAs ein wichtiges Zwischenglied bei der Enstehung von ME/CFS sein könnten. Insbesondere im Spannungsfeld zwischen Umweltfaktoren, genetischer Vorbelastung, Infektionen und dem Ausbruch der Krankheit.
In Quebec wurden 111 ME/CFS-Patient*innen und 58 Gesunde untersucht. Um einheitliche Ergebnisse zu bekommen haben die Ärzte Post-Exertional Malaise mit einem Armmassagegerät simuliert, bevor sie Blut abnahmen. Der Arm wurde dabei 90 Minuten lang massiert, um die Muskelzellen in einen Stresszustand zu versetzen.

32 MicroRNAs waren in den Untersuchungen bei ME/CFS signifikant verändert, u.a. eine MicroRNA (MiR-127-3p), die Zytokine im Blut und Liquor reguliert, also für höhere Entzündungswerte verantwortlich ist. Ebenso fanden sie bei manchen ME/CFS-Patient*innen ein verändertes Molekül auf B-Zellen. Andere veränderte MicroRNA kontrollieren die Aufnahme von Neurotransmittern und Schmerzrezeptoren.
Das Team konnte 4 verschiedene Subgruppen von ME/CFS an Hand der RNAs ausmachen. Diese Unterscheidung ist allerdings noch im Anfangsstadium.

 

Maureen Hanson | Universität Cornell (USA)  

Maureen Hanson ist Professorin für Molekulare Biologie und Genetik an der Universität Cornell und leitet eines der drei ME/CFS-Forschungszentren, die seit letztem Jahr von den NIH gefördert werden. Hanson sprach über den Metabolismus (Stoffwechsel) und ME/CFS. 

Hansons Team identifizierte bislang 41 Metabolite (Stoffwechselprodukte), anhand derer mit 95 %-iger Sicherheit die Blutproben von ME/CFS-Patient*innen von denen gesunder Kontrollpersonen unterschieden werden können. Die Analyse der Metabolite weist auf eine Störung innerhalb des Zitratzyklus hin. Zudem leitet Hansons Team aus den Daten zwei weiterführende Hypothesen ab: Probleme bei der Verwertung von Fettsäuren und reduzierte Gewebeoxygenierung (Sauerstoffsättigung des Gewebes). 

Eine Einteilung von ME/CFS-Patient*innen anhand ihres metabolischen Profils in Subgruppen ist bisher nicht möglich. Dies ist laut Hanson interessant, da es bedeuten könnte, dass es sich um eine fundamentale Störung bei der Erkrankung handelt. Zudem seien die Ergebnisse verschiedener Forschungsgruppen zum Metabolismus bei ME/CFS überwiegend konsistent und reproduzierbar.

 

Podiumsdiskussionen 

Es fanden zwei Podiumsdiskussionen statt, eine am Mittag mit den ersten fünf Vortragenden und eine am Abend mit den folgenden fünf Vortragenden. Fragen konnten auch von Teilnehmenden zu Hause über ein Onlineformular eingereicht werden. Es bestand großes Interesse, für beide Podiumsdiskussionen wurden je über hundert Fragen eingereicht.

 

Ron Tompkins | Universität Harvard (USA)  

Ron Tompkins ist Professor für Chirurgie an der Harvard Medical School und Chef des Trauma, Burns and Surgical Critical Care Service am Massachusetts General Hospital in Boston.  

Prof. Tompkins berichtete vom in diesem Jahr neu an der Universität Harvard eingerichteten ME/CFS Collaborative Research Center. Er hat gemeinsam mit Prof. Wenzhong Xiao die Leitung das von der OMF geförderten Zentrums übernommen. Das Research Center besteht aus Ärzt*innen an verschiedenen mit der Harvard Medical School assoziierten Krankenhäusern und wird eng mit der Universität Stanford zusammenarbeiten. Die Ziele des Research Centers sind zum einen die Analyse von Muskelbiopsien von ME/CFS-Patient*innen zur Erforschung der Entstehung von post-exertioneller Malaise (PEM) und zum anderen der Aufbau eines Forschungsnetzwerks zur koordinierten Durchführung kontrollierter klinischer Studien an verschiedenen Standorten. Aktuell werden Forschungsgelder eingeworben, Kooperationen mit den Universitäten Birmingham und Nottingham in Großbritannien bestehen bereits.  

 

Michael Sikore | Universität Stanford (USA)  

Michael Sikore ist Doktorand am Institut für Genetik an der Universität Stanford. Ron Davis sagte, er habe Sikore eingeladen vorzutragen, um auch die neue Generation von sehr guten Wissenschaftler*innen vorzustellen, für die ME/CFS ein spannendes Forschungsfeld ist, in das es sich einzusteigen lohnt. Sikore arbeitet am ersten Forschungsprojekt von Ron Davis mit, das von den National Institutes of Health gefördert wird (wir berichteten) und die T-Zell-Aktivität sowie genetische Faktoren bei ME/CFS untersucht.  

Sikores Vortrag hieß: „Sequenzierung klonal expandierter T-Zellen in ME/CFS“. T-Zellen sind Blutzellen des erworbenen Immunsystems – ihre Aufgabe besteht darin, infizierte oder veränderte Körperzellen zu erkennen und zu eliminieren. Sobald sie ein Ziel identifizieren, teilen und vermehren sie sich (klonale Expansion). Sikore führte aus, dass die bisherigen Forschungsergebnisse eine Vermehrung der T-Zellen bei ME/CFS-Patient*innen belegen, also das Immunsystem aktiviert sei. Damit übereinstimmend seien bei der Genexpression (Vorgang, bei dem die genetische Information in Bausteine für den Körper umgesetzt wird), die exprimierten (abgelesenen) Gene solche, die für die Eliminierung von erkrankten Zellen verantwortlich sind. 

Das Team geht im nächsten Schritt der Frage nach, was die T-Zellen aktiviert. In Betracht kommen u. a. Infektionen (z. B. viral, bakteriell, durch Pilze) oder auch Autoimmunität.  

 

Jarred Younger | University of Alabama at Birmingham (USA)  

Jarred Younger, außerordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Neuroinflammation, Schmerzen und Fatigue an der Universität Alabama, konzentriert sich in seiner Forschung auf chronische Inflammation (Entzündung) des Gehirns. Die amerikanische Solve ME/CFS-Inititaive unterstützt und finanziert seine Arbeit.

Younger untersuchte 15 ME/CFS-Patient*innen und 15 Gesunde zur Kontrolle. Das Gehirn schüttet bei einer Entzündungsreaktion Zytokine aus (Botenstoffe des Immunsystems), die wiederum die Gehirnzellen beinflussen und eine Reihe von Symptomen auslösen. Dazu gehören z.B. Schmerzen, Fatigue, Schlafstörungen, kogntivie Störungen, depressive Stimmung, das Bedürfnis sich Zurückzuziehen, und eine verlangsamte Bewegung. All diese Symptome gehören zur natürlichen „sickness response“ (Krankheitsantwort) rund treten bei vielen Erkrankungen vorübergehend auf. Diese natürliche Reaktion kann allerdings bei einer chronischen, unterschwelligen Entzüngung des Gehirns außer Kontrolle geraten, so dass die Zellen kontinuerlich die genannten Symptome auslösen.

Eine besondere Rolle nehmen hier die Mikroglia ein. Kleine Zellen, die sich zwischen den Nervenzellen im Gehirn befinden.
Tatsächlich fand Youngers Team vierfach erhöhte Laktatlevel (Anzeichen für Entzündung und Sauerstoffmangel) im Gehirn von ME/CFS-Betroffenen, z.B. in Cingulate (Malaise), Hypotthalamus (kognitive Störungen), Thalamus (Hypersensibilität) und Cerrebelum (flüssige Bewegung) und der Insela (Angst). Alle diese Reaktionen sind für die „sickness response“ verantwortlich. Ebenso fand das Team eine leicht erhöhte Temperatur im Gehirn von Patient*innen, ebenso ein Anzeichen für eine Entzündung.

Younger möchte diese Ergebnisse nicht nur für weitere Forschung und Replikation nutzen, sondern auch für eine zukünftige Diagnose mit einem pet-Scan. Ähnliche Ergebnisse wurden schon im Team von Dr. Montoya in Stanford gefunden. 

  

Ron Davis | Universität Stanford (USA)  

Ron Davis ist Professor für Genetik und Biochemie an der Universität Stanford und Direktor des Stanford Genome Technology Centers. In seinem Vortrag fasste Davis die Arbeit seines Teams an einem diagnostischen Biomarker für ME/CFS zusammen.  

Das Team arbeitet derzeit an folgenden möglichen Biomarkern: 

  1. Nano-Nadel-Technik 

Ein Tropfen Blut wird auf einen Chip mit 2.500 Elektroden („nanoneedles“) gegeben und die Impedanz (der elektrische Widerstand) gemessen. Zunächst zeigt sich kein Unterschied zwischen den Proben von ME/CFS-Patient*innen und Gesunden. Dann wird Salz hinzugefügt; die Zellen müssen das Salz herauspumpen und dafür Energie erzeugen. Gesunde Zellen können die benötigte Energie problemlos bereitstellen (die Impedanz bleibt gleich), die Zellen der ME/CFS-Patienten nicht – die Impedanz steigt deutlich an. Das Problem liegt dabei nicht bei den Zellen selbst, sondern im Blutsplasma – dies zeigt sich in Experimenten, bei denen Plasma und Zellen von gesunden Kontrollen und ME/CFS-Patienten vertauscht werden.  

Bislang kann der Test mit der Nano-Nadel-Technik zuverlässig alle Proben von ME/CFS-Patient*innen und gesunden Kontrollen voneinander unterscheiden. Davis’ Team testet mit der Technik auch Medikamente darauf, ob sie die Impedanz der ME/CFS-Proben normalisieren, es gibt bisher zwei Kandidaten.    

2.  Blutfluss der roten Blutkörperchen 

Es zeigt sich eine verminderte Verformbarkeit der roten Blutkörperchen von ME/CFS-Patienten. Sie müssen sich im Körper verformen, um durch schmale Kapillaren fließen zu können. Bisherige Ergebnisse deuten auf Probleme bei der Mikrozirkulation (Durchblutung der kleinsten Blutgefäße) hin.  

      3. Magnetische Levitation der weißen Blutkörperchen 

Die Zellen werden in eine Flüssigkeit gefügt, die auf magnetische Felder reagiert und in der sie mittels Magneten entsprechend ihrer Dichte angeordnet werden können. Die weißen Blutkörperchen von ME/CFS-Patient*innen zeigen in diesem Verfahren eine geringere Dichte, sie sind leichter als die von gesunden Kontrollen.  

       4. Seahorse Analyzer  

Mit einem Seahorse Analyzer kann die Zellaktivität gemessen wer. Das Team von Davis nutzt stimulierte T-Zellen, bei denen sich ein klarer Unterschied bei der mitochondrialen Atmung von gesunden Zellen im Vergleich zu den Zellen von ME/CFS-Patient*innen zeigt. 

      5. Metabolomik  

In Anlehnung an die Ergebnisse von Robert Naviaux, der zu Metabolomik und ME/CFS forscht, wird nach einer eindeutigen metabolischen Signatur gesucht. 

    6. Tryptophan/Kynurenin  

Diese Tests werden im Zusammenhang mit der Forschung an der „Metabolic Trap“ Hypothese durchgeführt, mehr dazu im folgenden Vortrag von Robert Phair. 

(Zum Weiterlesen: Wir haben u. a. hier und hier über Ron Davis‘ Arbeit an einem Biomarker berichtet.)


Robert Phair 
Integrative Bioinformatics Inc. (USA)

Robert Phair, Professor für Physiologie und Bioingenieurwesen am MIT, heute an einem privaten Institut in Kalifornien tätig, sprach über metabolische Fallen (metabolic traps) bei ME/CFS. Phair pries Dr. Bells Buch aus dem Jahr 1994 und meinte, dies wäre immer noch das beste Buch zum Thema.

Er benutzt die nicht lineare Systemtheorie um sich ME/CFS zu nähern. Er analysierte die Big Data Studie der OMF und suchte bei schwer erkrankten Patient*innen nach bekannten und weit verbreiteten Gendefekten. Laut Phair können biologische Systeme zwei (oder mehrere) stabile Stadien einnehmen, gesund und krank. Bei einigen chronischen Krankheiten kann sich der Körper nicht mehr aus einer metabolischen bzw. enzymatischen Falle befreien und bleibt krank, obwohl eigentlich nichts im Körper permanent beschädigt ist.

In den 20 schwerkranken ME/CFS Patienten entdeckte Phairs Team auffällige Mutationen des IOD2-Gens, welches Tryptophan in Kynurenin abbaut. Es gibt noch ein zweites sogenanntes Backup-Enzym im Körper, IOD1, welches aber nur bei moderaten Konzentrationen von Tryptophan arbeitet, bei sehr hohen Konzentrationen stellt es seine Arbeit ein. Kommt der Körper jetzt durch einen Infekt oder Stress in einen Zustand einer sehr hohen Trypotophan-Konzentration, funktioniert dieses Backup-Enzym nicht mehr. Der Erkrankte ist einer metabolischen Falle und kommt aus dem chronisch kranken Zustand nicht mehr heraus.

Phair möchte diese These weiterverfolgen und schauen, ob man durch die Gabe verschiedener Stoffe, diese metabolische Pattsituation wieder auflösen kann. Er warnte jedoch ausdrücklich die Patient*innen davor, selbst Experimente durchzuführen. Dies könnte gefährlich sein, da Effekte und Verstoffwechselung hier noch nicht gut erforscht sind und den Krankheitszustand verschlimmern könnten.

 

Abschluss

Nach dem Vortrag von Robert Phair sprach noch einmal Ron Davis.  

Davis bat Patient*innen eindringlich darum, keine eigenen Experimente bezüglich der Metabolic Trap Hypothese durchzuführen, dies könne schwerwiegende und irreversible Folgen haben.   

Davis hob die Wichtigkeit der Kooperation von Wissenschaftler*innen hervor. Er erklärte zudem, dass die während des Symposiums gehörten Ansätze sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern alle zutreffen und Teile eines riesigen Puzzles sein könnten.  

Das Symposium schloss mit einer zweiten Podiumsdiskussion. 

Alle Vorträge des Symposiums werden in Kürze als einzelne Videos auf dem YouTube-Kanal der OMF veröffentlicht. Bis dahin bleibt der achtstündige Livestream weiter verfügbar.  

In den Sozialen Netzwerken sind Beiträge zum Arbeitsgruppentreffen und Symposium über das Hashtag #mecfs18 zu finden.  

Zum Livestream des Symposiums

 

Hinweis: 

Alle Texte sind von uns sorgfältig und nach bestem Wissen erstellt. Sie sind jedoch allgemeiner Art und können nur generell über ME/CFS und die allgemeine Forschungslage aufklären. Bitte verwenden Sie die Informationen nicht als Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen und treffen Sie keine Selbstdiagnosen.

Bei gesundheitlichen Beschwerden konsultieren Sie bitte einen Arzt. Nur eine individuelle Untersuchung kann zu einer Diagnose und ggf. Therapieentscheidung führen. Nehmen Sie Medikamente nur nach Absprache mit einem Arzt oder Apotheker ein.

 

Redaktion: laf, dha, jhe