Das Bild zeigt wie bei GET die Aktivität stufenweise über die Baseline hinaus gesteigert wird, während beim Pacing die Aktivität drunter bleibt, um PEM zu verhindern.

ME/CFS: der Unterschied zwischen Pacing und GET

ME/CFS: der Unterschied zwischen Pacing und GET

Zwei gegensätzliche medizinische Ansätze erklärt

Pacing und ansteigende Aktivierungstherapie (engl. Graded Excercise Therapy, GET) stellen konzeptuell gegensätzliche medizinische Ansätze dar. In der Praxis kommt es jedoch immer wieder vor, dass etwas als Pacing bezeichnet, aber trotzdem GET angewendet wird. Dies kann gefährlich für die ME/CFS-Erkrankten sein, da GET bei bei ME/CFS zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führen kann. Hier sollen die beiden Konzepte gegenübergestellt und ihre Unterschiede verdeutlicht werden.

Das Kernsymptom von ME/CFS: Post-Exertional Malaise

Um die Wirkung der beiden Konzepte zu verstehen, ist es wichtig, das Kernsymptom von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise (kurz: PEM), zu kennen. PEM bezeichnet eine Verschlechterung der Symptomatik nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung.

Die PEM tritt unmittelbar nach einer ausgeführten Aktivität auf oder mit einer Latenz von ca. 12 bis 48 Stunden danach. Die PEM kann für mehrere Tage oder Wochen anhalten oder zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung bis hin zur Bettlägerigkeit führen. In der deutschen Fachsprache wird die Post-Exertional Malaise auch als postexertionelle Malaise oder Belastungsintoleranz bezeichnet.

Die Verschlimmerung der bestehenden Symptomatik und/oder das Auftreten neuer Symptome geht meist mit einem rapiden Abfall des Leistungs- und Aktivitätsniveaus einher. Personen mit ME/CFS bezeichnen PEM auch als „Crash“ und beschreiben den Zustand mitunter so, als hätten sie zugleich eine Grippe, einen Kater und einen Jetlag.

Ansteigende Aktivierungstherapie (GET)

„Die ansteigende Bewegungstherapie (GET) ist so definiert, dass zunächst die Baseline der erreichbaren Bewegung oder körperlichen Aktivität einer Person ermittelt wird und dann die Zeit, in der sie sich körperlich betätigt, schrittweise erhöht wird.“ (NICE, 2021)

Bei GET wird durch den Anstieg der fixen Intervalle die Baseline der Erkrankten gezielt überschritten. GET wurde aufgrund einer nicht wissenschaftlich belegten Annahme entwickelt, dass ME/CFS durch Dekonditionierung und aktivitätsvermeidende Verhaltensweisen aufgrund dysfunktionaler Kognitionen („Angst vor Bewegung“) entstehe. Durch die Steigerung der Aktivität sollte die Dekonditionierung behandelt und die Baseline stückweise erhöht werden. Es gibt bis heute jedoch weder einen Beleg für die Dekonditionierungshypothese bei ME/CFS, noch hochwertigen Studien, die einen Nutzen von GET belegen können. Im Gegenteil gibt es viele Berichte von Patient*innen, die von dauerhaften gesundheitlichen Schäden durch Aktivierungstherapien berichten.

Madita schreibt bei einer Mitgliederumfrage der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zu Erfahrungen mit Aktivierungstherapien: „Vor der Therapie war ich arbeitsfähig und konnte vormittags arbeiten, nachmittags und am Wochenende hauptsächlich liegen mit wenigen Ausnahmen an besseren Tagen. Eine Aktivierungstherapie wurde im Rahmen eines 5-wöchigen Aufenthaltes in einer psychosomatischen Rehaklinik durchgeführt. Dort waren trotz starker Schmerzen und eines sich stetig verschlechternden Zustands regelmäßige Gymnastikgruppen (…) zu besuchen. Bei Verweigerung drohte der Ausschluss aus der Reha. Die Konsequenz war, dass ich arbeitsfähig in die Reha gekommen bin, arbeitsunfähig aber angeblich voll leistungsfähig entlassen wurde (…) und ich danach voll berentet werden musste.“

Es kommt bei ME/CFS beim Überschreiten der Baseline nicht zu einem Trainingseffekt wie bei Gesunden oder anderen Erkrankten. Vielmehr lässt es sich bei ME/CFS mit einem (Energie-)Konto mit hohen Zinsen vergleichen. Wer die täglich verfügbare Energie überschreitet, zahlt hohe Zinsen (PEM) in Form von verstärkten Symptomen und einer verringerten Baseline in der Folgezeit. Dies erfordert ein wichtiges Umdenken von Ärzt*innen und Physiotherapeuten, um mögliche Schäden durch verordnete Therapien zu verhindern.

Daher warnen international Gesundheitsbehörden und Fachgesellschaften wie IQWiG, DEGAM, NICE oder CDC vor den schädlichen Nebenwirkungen und Gefahren der GET bei ME/CFS.

Pacing (in der britischen Leitlinie „Energie-Management“ genannt)

„[Pacing] hilft den Menschen, die ihnen noch zur Verfügung stehende Energie zu nutzen und gleichzeitig das Risiko einer Post-Exertional Malaise oder einer Verschlimmerung ihrer Symptome durch Überschreitung ihrer (Überlastungs-)Grenzen zu verringern.“ (NICE, 2021)

Beim Pacing geht es darum, unterhalb der durch die Krankheit vorgebenen Belastungsgrenze zu bleiben, um keine Post-Exertional Malaise auszulösen und eine Verschlechterung der Symptomatik und des Gesundheitszustands zu verhindern. Pacing ist dabei keine Therapie, sondern eine Form des Krankheitsmanagements. Hierfür werden eine Reihe von Strategien – wie Planen von Erholung und Schonung, Priorisieren, Delegieren, Verändern, Abwechseln, Hinhören und Abbrechen – angewendet. Pacing ist dabei weniger von „Pace“ (Schritt) abgeleitet, sondern von „to pace yourself“ (ruhig angehen lassen/seine Kräfte einteilen). Beim Pacing werden keine festen Aktivitäten vorgegeben. Die Menge der Tätigkeiten über den Tag richtet sich nach dem Gesundheitszustand und der pathologischen Belastungsgrenze der betroffenen Person. Das Krankheitsspektrum von ME/CFS ist sehr breit.

In sehr milden Fällen ist es vielleicht noch möglich zu arbeiten, aber es müssen die Stunden oder Aufgaben angepasst werden, auf Freizeitaktivitäten weitgehend verzichtet oder beispielsweise ein Spaziergang auf das Wochenende gelegt werden. In schweren und sehr schweren Fällen lässt sich PEM trotz Pacings oft nicht verhindern, da bereits die Nahrungsaufnahme, Körperhygiene, die Anwesenheit einer Pflegeperson oder das Umdrehen im Bett zu PEM führen können.

Mehr Informationen haben wir in unserer Anleitung und unserem Video zum Pacing zusammengestellt.

Pacing wird empfohlen, vor GET wird gewarnt

Aufgrund der festen, schrittweisen Erhöhung der Aktivität über die Baseline hinaus führt die GET bei ME/CFS wegen der Post-Exertional Malaise zu einer Gesundheitsverschlechterung. Daher warnen international Gesundheitsinstitutionen vor der Anwendung und empfehlen stattdessen Pacing, bei dem es darum geht durch die Planung von Tätigkeiten eine Überlastung und Symptomverschlechterung zu vermeiden.

Pacing hilft dabei, weitere Zustandsverschlechterungen zu verhindern und möglichst viel Funktionalität zu erhalten. Zudem kann sich der Zustand (vor allem in frühen Krankheitsverläufen) durch striktes Pacing und der damit einhergehenden Erholung langsam verbessern, sodass im besten Fall zukünftig wieder mehr Aktivitäten möglich sind.

Pacing und ansteigende Aktivierung (GET) sind konzeptuell zwei gegensätzliche medizinische Ansätze und dürfen nicht verwechselt werden. Während Pacing die Symptomatik bei ME/CFS stabilisieren kann, kann GET sie stark verschlechtern und darf nicht angewendet werden.

Pacing Ansteigende Aktivierung (GET)
Reduzierung von Aktivität und Belastung Steigerung von Aktivität und Belastung
Im Zentrum steht Schonung Im Zentrum steht Aktivität
Schone dich, so gut du kannst Aktiviere dich, soviel du kannst
Bleibe in deinen Grenzen Gehe über deine Grenzen hinaus
Höre auf deinen Körper und deine Symptome Fokussiere dich nicht auf deinen Körper und deine Symptome
Stoppe, bevor du zu viel tust Mache weiter, auch wenn es zu viel erscheint
Überlastung löst Verschlechterung (PEM) aus Schonung löst Verschlechterung aus
Ziel ist es Symptomverschlechterung zu verhindern und die Krankheitsprogression aufzuhalten Ziel ist es Aktivität zu steigern und die Belastungsgrenze auszuweiten
Es gibt eine pathologische Belastungsgrenze Es gibt keine pathologische Belastungsgrenze
Mit strikter Ruhe lässt sich die Belastungsgrenze evtl. etwas steigern Mit Training lässt sich die Belastungsgrenze ausweiten