3. Die Bundesregierung ignoriert neue Forschungsergebnisse und hält an kontraindizierten Behandlungsansätzen fest
Die Bundesregierung ignoriert, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wie auch z. B. die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC ME/CFS als neurologische/organische Krankheit klassifizieren. Auch Dänemark hat ME/CFS aus dem Katalog der „funktionellen Störungen“ gestrichen. Stattdessen behauptet die Bundesregierung weiter, dass eine psychosomatische Genese möglich sei. Dies steht in Widerspruch zur aktuellen Forschungslage. Danach bestehen zahlreiche Hinweise auf physiologische Anomalien (u. a. gestörter Energiestoffwechsel, verminderte anaerobe Schwelle, Autoimmunität). Die Bundesregierung beruft sich auf Quellen, die in der Fachwelt erheblich in der Kritik stehen und oft massive qualitative Mängel aufweisen (wie z. B. die „Leitlinie Müdigkeit“, die für das Kapitel ME/CFS den S3-Status wegen mangelhafter wissenschaftlicher Qualität verloren hat). Sie perpetuiert damit weiterhin das Stigma, das den Betroffenen bisher geschadet und biomedizinische Forschung verlangsamt hat.
Ferner hält die Bundesregierung potentiell schädliche Aktivierungstherapien weiterhin für sinnvoll. Sie stützt sich dabei auf den sogenannten PACE-Trial, den internationale ME/CFS-Expert*innen massiv kritisieren und dessen Ergebnisse nicht in Einklang mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bringen sind. Nicht nur, dass die Betroffenen die Aktivierungstherapie als erheblich kontraproduktiv erfahren; sie eignet sich auch deshalb nicht als Therapieansatz, da das Kardinalsymptom von ME/CFS die Post-Exertional Malaise darstellt – die Verschlechterung aller Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Belastung (s. Bericht des amerikanischen IOMs). Unter anderem stuften Wilshire et al. und die amerikanische Gesundheitsbehörde AHRQ die Evidenz für solche „Aktivierungstherapien“ auf mangelhaft bis nicht vorhanden herab. Die Belastungsintoleranz haben Stevens et al. ebenfalls durch 2Day-CPET-Studien bestätigt.
Die Bundesregierung stützt sich bei ihrer Einschätzung hauptsächlich auf den übersichtsartigen Bericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2015. Doch der Bericht weist erhebliche methodische Schwächen auf, da das RKI die gesichteten Originalarbeiten nicht evaluiert hat. Viele der einbezogenen Studien weisen qualitative Mängel auf, etwa im Studiendesign, bei der statistischen Auswertung oder der Wahl der diagnostischen Kriterien. Schon damals hat das RKI zudem den relativ kleinen Betrachtungszeitraum von 2009 auf 2014 gewählt. Mittlerweile liegen zahlreiche Studien aus fünf weiteren Jahren vor. Zudem beruft sich die Bundesregierung auf ein Cochrane-Review, der jedoch derzeit wegen schwerer inhaltlicher und methodischer Mängel überarbeitet wird.